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Die letzten Indigenen Europas Ein Volk feiert leise und eine Stadt zieht um

Im schwedischen Kiruna diktiert das Bergwerk die Zukunft. Die dortigen Samen möchten aus ihrer Nebenrolle heraustreten.

1365 Meter unter der Oberfläche herrscht rund um die Uhr Grossbetrieb. Im unterirdischen Güterbahnhof der Eisenerzbergwerks von Kiruna in Nordschweden fahren vollbeladene Züge im Minutentakt ein und aus. Es ist das grösste Erzbergwerk der Welt.

An der Erdoberfläche liegt das Zentrum von Kiruna, einer Stadt mit knapp 20'000 Einwohnern. Doch in Kiruna gibt es Risse im Boden, denn das Bergwerk im Untergrund zapft immer neue Vorräte an. Die Schäden reichen von kleinen Spalten bis zu hundert Meter tiefen Gruben.

«Neu-Kiruna» in zehn Kilometer Entfernung

Die Stadt muss deshalb den wirtschaftlichen Interessen weichen. Riesige Sattelschlepper werden in den kommenden Jahren viele Gebäude rund zehn Kilometer nach Norden verfrachten, wie Christer Vinsna erklärt, Projektleiter der Gemeinde für den grossen Umzug.

Einige Häuser werden abgerissen, andere neu gebaut, darunter das gelbe Rathaus. Die grosse Holzkirche dagegen wird in Einzelteile zerlegt und am neuen Ort wieder aufgestellt. Das neue Kiruna entsteht dort, wo bislang Angehörige der nordischen Urbevölkerung der Samen ihre Rentierherden weiden liessen.

Nordschweden bildet zusammen mit Nordnorwegen, Nordfinnland und der russischen Kolahalbinsel den Lebensraum der Samen. Das Gebiet ist zehn Mal so gross wie Schweiz. «Die Samen mit ihren Herden haben seit jeher grosse Flächen beansprucht. Gut 40 Prozent des ursprünglichen Lebensraumes sind in den letzten 25 Jahren verloren gegangen», sagt Peter Sköld, Leiter des Zentrums für arktische Studien an der Universität Umeå in Nordschweden.

Der forcierte Umzug von Kiruna wird zum Symbol für die Zukunftsangst des indigenen Volkes.
Autor: Ol-Johan Sikku Abgeordneter im samischen Parlament

«Wir haben in den letzten 20 Jahren viele neue Rechte erkämpft und nun auch ein eigenes Parlament. Bei der Nutzung von Boden und Ressourcen leben wir aber noch immer im Kolonisierungszustand», kritisiert der Abgerdnete im samischen Parlament, Ol-Johan Sikku. Der erzwungene Umzug werde nun zum Symbol für die Zukunftsangst des indigenen Volkes.

Bruno Kaufmann

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Bruno Kaufmann lebt in Schweden und berichtet als freier Korrespondent für Radio SRF über die nordischen und baltischen Staaten. Der Politikwissenschaftler forscht ausserdem zu Fragen der modernen Demokratie.

Nordschweden besitzt viele Bodenschätze. Neben Eisenerz werden Gold, Silber, Blei, Zink und Kobalt abgebaut. Dazu kommt ein grosses Potential für Wasser- und Windkraft.

Urbevölkerung sieht sich übergangen

«Die Nutzung dieser Ressourcen wird vor allem von multinationalen Unternehmen angestrebt und ist eine direkte Bedrohung für die Samen», unterstreicht Ulla Barruk Sunna, langjährige Direktorin des samischen Parlamentes in Schweden.

Ulla Barruk Sunna spricht von einem enormen Druck der grossen Firmen und der sehr bescheidenen Sensibilität des Staates für die samischen Interessen. Die Samen hätten kaum Anteil am enormen Reichtum der Bodenschätze, abgesehen einmal von jenen Angehörigen der Urbevölkerung, die in den Bergwerken arbeiten.

Der Druck der grossen Firmen ist enorm und die Sensibilität des schwedischen Staates für unsere Interessen sehr bescheiden.
Autor: Ulla Barruk Sunna Direktorin des samischen Parlaments in Schweden

Ruf nach mehr Selbstbestimmung

Zum heutigen 100. Jahrestag der ersten samischen Versammlung in Trondheim fordern viele Samen eine echte Autonomie und damit mehr Selbstbestimmung. Darauf hofft in den kommenden 100 Jahren auch Isak Utsi, Vorsitzender des samischen Jugendverbands Saminuorra: «Wir müssen nicht nur mitentscheiden können, was auf und unter unserem Boden geschieht, sondern auch, wer an unseren Schulen unterrichtet und welche Sprachen in unseren Gemeinden gesprochen werden.»

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