Da sitzt sie also, Stacie Scoggins Marshall, in der Küche ihrer frisch geerbten Farm in Dirt Town Valley, tief im ländlichen Nordwesten des Südstaates Georgia, und schaut uns Besuchern offen und direkt in die Augen: «Es war hier an diesem Küchentisch, als ich davon erfuhr.» Stacie sitzt da, auf dem Kopf ein Cowboyhut, um den Hals hat sie ein rotes Tuch gebunden. Die braunen Latzhosen zeugen von schwerer Arbeit auf dem Feld. Die junge Farmerin könnte aus einem Film entsprungen sein, doch sie ist so echt, wie ihre Geschichte wahr ist.
Ich fühlte mich, als hätte man mir in die Magengrube geboxt.
«Ich versuchte, meine erstgeborene Tochter zu stillen. Doch irgendwie funktionierte es nicht richtig. Da sagte mein Grossvater: Das war mit allen Frauen der Scoggins so.» Und dann erzählte ihr der Grossvater von der Sklavin Hester, die die Familie einst gekauft habe, um der Familie als Amme zu dienen und die Scoggins-Kinder zu nähren. «Ich fühlte mich, als hätte man mir in die Magengrube geboxt.»
Das Sklavenregister von Dirt Town Valley
Die Familie von Stacie Scoggins zog vor 200 Jahren mit den ersten weissen Siedlern nach Dirt Town Valley. Die Siedler vertrieben die damaligen Besitzer des Landes, die Cherokee, eigneten sich das Land an, und brachten gleichzeitig den Sklavenhandel ins Tal. Die Geschichte von Stacie Scoggins Marshall ist so sehr ihre eigene Geschichte, wie sie die Geschichte der USA ist. Und dass sie heute so aktuell ist wie je zuvor, bezeugt, wie sehr das Verdrängen und Nicht-Aufarbeiten dieser Geschichte die USA bis heute belastet.
Stacie kniet sich vor das schwere Bett im Schlafzimmer und zieht eine Kiste hervor. Darin ist ein Buch: «Das ist das Sklavenverzeichnis von Dirt Town Valley aus dem Jahr 1860.» Auf einer Seite, ganz zuoberst, ist in fein säuberlicher Schrift der Name W.D. Scoggins zu lesen. «Das ist mein Ur-ur-ur-ur-Grossvater. Und neben seinem Namen sind sieben Sklaven aufgeführt, die er gekauft hatte.»
Die Sklaven haben keine Namen. Nur ihr Geschlecht steht da und ihr Alter. «Meinen Familiennamen als Sklavenbesitzer aufgeführt zu sehen, machte mich wütend. Traurig. Ich war verwirrt. Und ich dachte, vielleicht ist es das Beste, nie mehr darüber zu sprechen.»
Der Ku-Klux-Klan als Nachbar
Und für lange Zeit sprach Stacie nicht mehr darüber. So, wie es ihr Grossvater von ihr verlangt hatte.
Doch die Geschichte liess ihr keine Ruhe. Und eines Tages beschloss Stacie, ihr nachzugehen. «Wir sind an einem Punkt in unserer amerikanischen Geschichte, an dem manche Leute sagen: Rassismus existiert nicht mehr, das ist doch kein Problem mehr. Dabei stolpern wir immer wieder darüber, wie wir die guten Seiten unserer Geschichte mit diesen schmerzvollen Teilen unserer Vergangenheit vereinen sollen.»
Die Trump-Präsidentschaft, die Black-Lives-Matter-Bewegung, der Ku-Klux-Klan, der 20 Autominuten von ihrer Farm entfernt bis heute einen Versammlungsort besitzt und sich dort regelmässig trifft. «Wenn wir unsere Vergangenheit unter den Tisch kehren, wie sollen wir dann von unserer Geschichte lernen?» Stacie wollte die Vergangenheit nicht weiter unter den Tisch kehren.
Wie kann ich Unrecht wiedergutmachen, das ich selbst nicht begangen habe, von dem meine Familie aber profitiert hat?
Stacies Grossvater hatte ihr nicht viel erzählt, damals, am Küchentisch. Nur, dass die Sklavin, die Stacies Ur-ur-ur-ur-Grossvater W. D. Scoggins damals gekauft hatte, Hester hiess, und dass sie vier Kinder hatte, die ebenfalls zu Sklaven der Familie wurden. Stacie begann sich durch die Archive zu graben. «Ich empfand keine Schuld. Denn dazu hätte ich ja selbst etwas Schlechtes tun müssen. Aber ich empfand tiefe Reue.»
Hester, die Amme der Scoggins
Stacie begann, die Informationen wie Brosamen zusammenzuklauben. Und sie fuhr zu ihren Nachbarn, Betty und Melvin Mosley, einem afro-amerikanischen Ehepaar, das seit ihrer eigenen Kindheit mit ihrer Familie befreundet ist.
An die Mosleys konnte Stacie alle ihre Fragen richten. Auch diejenige, die sie am meisten umtrieb: «Wie kann ich Unrecht wiedergutmachen, das ich selbst nicht begangen habe, von dem meine Familie aber profitiert hat?»
Die Farm der Scoggins ist nicht gross. Sie wirft nicht einmal genügend ab, damit die Familie von ihr leben könnte. Ohne das Einkommen ihres Mannes könnten die Scoggins ihre drei Töchter und sich selbst nicht ernähren.
Selbst, wenn Stacie also die Nachfahren der Sklaven ihrer Familie ausfindig machen könnte, wäre sie kaum in der Lage, ihnen materiell viel zu bieten. Und doch ist die kleine Frage, die Stacie Scoggins Marshall umtreibt, die Frage einer ganzen Nation: Sollen die Nachfahren von Leuten, die andere Menschen als Sklaven hielten, verantwortlich gemacht werden für jene Verbrechen? Was können sie tun, um das Unrecht zu tilgen? Und was würde das kosten?
Die Nachfahrin von Hester
Melvin Mosley schaukelt gemächlich in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda seines Hauses. «Die Weissen hatten immer Privilegien. Als ich jung war, war der Rassismus unverhohlen. Heute ist er unterschwelliger.»
Melvin Mosley lächelt. «Aber ich habe mich nie selbst entwertet. Ich wusste immer, dass ich wertvoll war. Und da kommt Stacie und beginnt Dinge aufzudecken, die die Leute lieber verdeckt halten würden.» Das sei schon viel wert, sagt Melvin Mosley, der als Kind einst noch nur mit anderen schwarzen Kindern zur Schule durfte und nicht in die Schule der weissen Kinder des Tals.
Nein, Stacie schuldet mir gar nichts. Was sie tut, kostet Mut genug.
Doch Stacie Scoggins Marshall wollte sich damit nicht zufriedengeben. Sie suchte weiter in den Archiven, und eines Tages fand sie ein uraltes Papier.
Ein Papier, das sie sofort zu den Mosleys trug: «Stacie kam zu uns, und begann Namen vorzulesen.» Betty Mosley wirft ihrem Mann einen verschworenen Blick zu. «Ich habe Melvin angeschaut und gesagt: Diese Namen kennen wir. Das ist meine Familie.» Stacie hatte den Stammbaum von Betty Mosley gefunden. «Und als sie geendet hatte, sagte Stacie zu mir: Betty, Hester ist Deine Ur-ur-ur-Grossmutter.»
Betty schaukelt genauso gemächlich vor sich hin wie ihr Mann Melvin. «Stacie schuldet mir gar nichts. Ich habe ihr gesagt: Du hast drei wunderbare Töchter. Erziehe sie so, dass sie alle Menschen als gleich wertvoll respektieren.»
Das, sagt Betty, sei ihr Wiedergutmachung genug. «Nein, Stacie schuldet mir gar nichts. Was sie tut, kostet Mut genug.»
Der Friedhof der Sklaven
Mut braucht Stacie tatsächlich. Drohungen sind schnell ausgesprochen in Dirt Town Valley. Doch Stacie lässt sich nicht einschüchtern. Sie führt uns zu einem alten Friedhof. Manche Grabsteine sind aus der Zeit des Bürgerkrieges und führen die Namen von gefallenen Soldaten. Diese Grabsteine sind fein säuberlich geputzt. Neben manchen sind Konföderierten-Flaggen eingepflanzt, die Flagge der Südstaaten. «Das waren Soldaten, die für die Sklaven haltenden Südstaaten gekämpft hatten.» Stacie zeigt auf kleine, namenlose Grabsteine daneben: «Und das, das sind die Grabsteine von Sklaven.»
Auf diesen Grabsteinen stehen weder Namen noch Jahreszahlen. «Es zeigt uns, dass gewisse Menschenleben es mehr wert waren, dass man sich an sie erinnert, als andere.»
Stacie Scoggins Marshall schaut in den Himmel: «Ich verstehe, dass Leute hier, wenn sie hören, dass sie als Weisse privilegiert seien, wütend werden und sagen: Ich bin doch nicht privilegiert, ich besitze ja kaum etwas.» Doch das sei zu kurz gedacht, sagt sie zwischen diesen Grabsteinen mit und ohne Namen: «Denn weisse Privilegien bedeuten nicht zwingend, reich zu sein oder keine Schwierigkeiten zu haben. Aber es bedeutet, dass diese Schwierigkeiten nichts mit Deiner Hautfarbe zu tun haben.»