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Ein Land driftet auseinander Die Polen haben sich verloren

Polen ist ein homogenes Land. Doch seine Gesellschaft teilt sich in zwei Hälften, die mehr und mehr auseinanderdriften.

«Ich denke, ich fühle, ich entscheide», skandieren Hunderttausende auf den Strassen Warschaus. Und immer wieder: «Wypierdalać», ein übles Fluchwort. Übersetzt auf anständiges Deutsch: Die rechtskonservative Regierung soll gehen. Die Demonstration Ende Oktober ist die grösste, die Polen seit dem Ende des Kommunismus erlebt hat.

Zehntausende an der Demonstration Ende Oktober.
Legende: Hunderttausende an der Demonstration Ende Oktober vor dem Kulturpalast in Warschau. Reuters

Guter Wandel?

Auslöser ist ein Urteil des polnischen Verfassungs­gerichts, welches legale Abtreibungen in Polen praktisch verunmöglicht. Aber letztlich geht es um mehr in dieser kalten Herbstnacht. Es geht um die Zukunft Polens.

Das Regierungslager will das Land konservativer, katholischer und nationalistischer machen. «Guten Wandel» nennt das der wohl mächtigste Mann im Land: Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei PiS.

Der Strippenzieher

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Jarosław Kaczyński
Legende: keystone

Ohne das Einverständnis von Jarosław Kaczyński geht in der polnischen Regierung nichts. Der Chef der Regierungspartei PiS sitzt erst seit kurzem im Kabinett. Aber schon vorher, als er nur Parlamentarier war, zweifelte niemand an seiner Macht.

Der 71-Jährige ist Dreh- und Angelpunkt der Regierungspartei, die er vor zwanzig Jahren zusammen mit seinem Zwillingsbruder Lech gegründet hat. Kaczyński hat jenes Programm aus erzkatholischen Werten, aus viel Nationalstolz und viel Kindergeld gezimmert, das seit fünf Jahren bei allen nationalen Wahlen eine Mehrheit der polnischen Wählerinnen und Wähler überzeugt hat.

Seit dem Tod seines Zwillingsbruders beim Flugzeugabsturz von Smolensk im Jahr 2010 ist Jaroslaw Kaczynski ein Einzelgänger. Der mächtigste Mann Polens lebt allein, hat keine Beziehung, besitzt keinen Computer, keinen Führerschein, spricht keine Fremdsprache.

Seine Gegner wollen auch einen Wandel. Aber einen ganz anderen: Sie wollen Polen gesellschaftlich öffnen, den Einfluss der mächtigen katholischen Kirche eindämmen und den Dauerstreit mit der Europäischen Union beenden.

«Jarosław Kaczynski hat in einem homogenen Land zwei Nationen geschaffen», sagt der ehemalige Aussenminister Radosław Sikorski, einer der prominentesten Regierungsgegner. Aber der Konflikt ist nicht nur das Werk eines Politikers.

Jarosław Kaczynski hat in einem homogenen Land zwei Nationen geschaffen.
Autor: Radosław Sikorski Ehemaliger Aussenminister

«Wolność» – Freiheit – steht auf der Maske von Karolina Lange. Auch die Managerin, einer Mittdreissigerin, demonstriert. Dabei ist die Mutter von zwei kleinen Kindern alles andere als eine Radikale.

Eine Fristenlösung, wie sie zum Beispiel in der Schweiz gilt, ist ihr zu liberal. Aber Müttern das Recht zu nehmen, ein Kind abzutreiben, das unmittelbar nach der Geburt sterben wird – das findet sie ungeheuerlich.

Karolina Lange demonstriert für Freiheit, Paweł Adamiak für ein noch strengeres Abtreibungsrecht.
Legende: Karolina Lange demonstriert für Freiheit, Paweł Adamiak für ein noch strengeres Abtreibungsrecht. SRF

Für sie geht es um Freiheit und letztlich um ein lebenswertes Polen. «Leben in einem Land, das die Freiheit missachtet, ist kein richtiges Leben», sagt Lange.

Sie beklagt, wie die Regierung den Raum für Andersdenkende enger gemacht hat; wie die Rechtskonservativen im Chor mit polnischen Bischöfen Stimmung machen gegen Schwule und Lesben; wie sie die Staatsmedien zu einer Propagandamaschine umgebaut haben; wie sie die Unabhängigkeit der Gerichte eingeschränkt haben – auch die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, welches Abtreibungen in Polen fast vollständig verboten hat.

«Es gibt keine Wahlfreiheit nach der Zeugung»

Auch Paweł Adamiak protestiert. Mit vier anderen Männern steht er vor der grössten Geburtsklinik Zentralpolens in Łódź. Sie halten ein schwarzes Transparent in die Höhe, auf dem sich ein blutiger Fötus krümmt.

Abtreibungsgegner Adamiak und seine Mitstreiter vor der grössen Frauenklinik Zentralpolens.
Legende: Abtreibungsgegner Adamiak und seine Mitstreiter vor der grössten Frauenklinik Zentralpolens. SRF

«Eine Frau hat nicht das Recht, das Leben in ihrem Bauch zu beenden. Das ist ein anderes Leben», sagt Adamiak. «Es gibt eine Wahlfreiheit vor der Zeugung, aber nicht nach der Zeugung.»

Der Vater von fünf Kindern – das sechste ist unterwegs – freut sich über das Abtreibungsurteil des Verfassungsgerichts. Und trotzdem stellt er sich nach wie vor jeden vierten Samstag vor die Geburtsklinik. Er will, dass Polen Abtreibungen auch dann verbietet, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Auch in Polen eine extreme Position.

Eine Frau hat nicht das Recht, das Leben in ihrem Bauch zu beenden. Das ist ein anderes Leben.
Autor: Paweł Adamiak Webdesigner

Typisch für das aufgeheizte Klima in der polnischen Gesellschaft ist hingegen, wie der Abtreibungsgegner über jene spricht, die anderer Meinung sind und die gegen das strenge Abtreibungsrecht demonstrieren. «Das macht mich traurig. Vor allem die Jungen werden manipuliert von der Opposition, welche nur die Regierung stürzen will», sagt Adamiak. Mit Manipulationsvorwürfen raubt man Andersdenkenden die Legitimität.

«Die LGBT-Ideologie bedroht die Menschheit»

Pater Roman Trzcinski hat gerade die Frühmesse in der Warschauer St.-Jakob-Kirche beendet. Es ging unter anderem um Radiosender, die der Seele schadeten wie Pornografie.

Jetzt wärmt sich der 71-Jährige in seinem Büro an einer Tasse Tee und erhitzt sich an seiner Verachtung für alle, die sich gegen das strenge Abtreibungsrecht wehren, die die Kirche kritisieren und angeblich die konservative Regierung absetzen wollen.

Für Pater Roman Trzcinski sind Schwule und Lesben krank. Die lesbische Katholikin Ula Grymuła will die Kirche von Innen verändern.
Legende: Für Pater Roman Trzcinski sind Schwule und Lesben krank. Die lesbische Katholikin Ula Grymuła will die Kirche von Innen verändern. SRF

«Diese Leute haben sich von Jesus abgekehrt. Deshalb gibt es die Spannungen in der polnischen Gesellschaft», sagt Trzcinski. Diese Leute seien Anhänger der LGBT-Ideologie. Sie hätten christliche Werte verraten und durch eine übertriebene Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten ersetzt. «Diese Leute sind intellektuell krank. Die LGBT-Ideologie bedroht die Menschheit», sagt der Priester.

Diese Leute haben sich von Jesus abgekehrt. Deshalb gibt es die Spannungen in der polnischen Gesellschaft.
Autor: Roman Trzcinski Priester

Seine Worte sind ein Echo von Aussagen viel mächtigerer Leute: Der Erzbischof von Krakau spricht von einer «Regenbogenplage». Polens Staatspräsident sagt, die LGBT-Ideologie sei noch schlimmer als der Kommunismus. Der Umgang mit Lesben und Schwulen reisst tiefe Gräben auf in der polnischen Gesellschaft – auch innerhalb der katholischen Kirche in Polen.

Lesbisch und katholisch

Auf Ula Grymułas Laptop kleben zwei Sticker – eine Regenbogenfahne und eine Maria. «Ich bin lesbisch und katholisch – diese beiden Dinge prägen mich mehr als alles andere», sagt die 21-jährige Warschauer Bio-Informatikstudentin.

Ich bin lesbisch und katholisch – diese beiden Dinge prägen mich mehr als alles andere.
Autor: Ula Grymuła Bio-Informatikstudentin

Einmal die Woche leitet sie eine katholische Jugendgruppe. Sie liest mit 14- und 15-jährigen Mädchen die Bibel und betet. Den Mädchen sagen, dass sie lesbisch ist, sei unmöglich. «Die Kirchenoberen würden mir wohl die Arbeit mit den Jugendlichen verbieten», sagt Grymuła.

Laptop Grimulas.
Legende: Kirche und Homosexualität: Grymuła vereint diese vermeintlichen Gegensätze auf ihrem Laptop. SRF

«Eine toxische Beziehung»

Die Liturgie und die Spiritualität einer schönen Messe bedeuten der jungen Frau viel. Sie sagt: «Ich liebe die Kirche. Aber es ist eine toxische Beziehung, denn die Kirche liebt mich nicht.»

Grymuła erzählt von der Anspannung, die es in ihr auslöst, immer wieder zu hören, sie sei falsch, sie gehöre nicht dazu; von der Psychotherapie, die ihr hilft, damit umzugehen; und von den inneren Konflikten, die sie in den letzten Jahren gequält haben.

Ich liebe die Kirche. Aber es ist eine toxische Beziehung, denn die Kirche liebt mich nicht.
Autor: Ula Grymuła Frauenrechtlerin

Trotzdem: Austreten an aus der Kirche kommt für die junge Katholikin nicht in Frage. «Ich will die Kirche verändern. Und ich bin überzeugt, dass auch Gott das von mir erwartet.»

Polen brauche eine offenere Kirche, eine, die einlade und nicht ausschliesse. Eine Kirche, die nicht so eng mit der Politik verbandelt sei. Auch wenn sie selbst gläubig ist, glaubt sie nicht daran, dass die Kirche als sozialer Kitt in Polen noch tauge. Dafür sei Polen nicht mehr genug katholisch.

Wie lange ist Polen noch eine katholische Hochburg?

Die Zahlen geben Grymuła Recht. Die Kirche ist zunehmend unbeliebt in Polen. Gemäss einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Centers hatten letztes Jahr zum ersten Mal mehr Polinnen und Polen ein negatives Bild von der Kirche als ein positives. Und nirgendwo sonst in Europa nimmt die Religiosität so rasch ab wie in Polen. Vor allem die Jungen wenden sich ab von der Kirche.

Auch in der Führmesse in der St.-Jakobs-Kirche sind die meisten Köpfe grau oder kahl. Trotzdem wischt Pater Trzcinski die Zahlen weg: «Die Statistiken werden manipuliert von Leuten, die der katholischen Kirche schaden wollen. Polen ist und bleibt eine katholische Hochburg.» Er glaubt, das Land werde auch in Zukunft einen eigenen, konservativeren Weg gehen als Westeuropa.

Die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union ist unbestritten. Umfragen zeigen immer wieder, dass die überwältigende Mehrheit der Polinnen und Polen die EU nicht verlassen will. Sehr umstritten ist aber, wie Polen seine Rolle als EU-Mitglied ausfüllt.

Jarosław Kaczynski, Chef der Regierungspartei, sagt: «Polen darf sich nicht die gleichen gesellschaftlichen Krankheiten holen wie der Westen.» Aber er sagt auch: «Polens Mitgliedschaft in der EU ist der kürzeste Weg, um zum Westen aufzuschliessen, was Einkommen und Lebensqualität angeht.»

«Cakists»

Radoslaw Sikorski ist einer der prominentesten Regierungsgegner Polens. Er war sieben Jahre lang Aussenminister, heute ist er Abgeordneter im europäischen Parlament. Für den Liberalen sind Kaczynski und seine Leute «Cakists» – Leute die einen Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten wollen. «Sie wollen von der EU profitieren, aber ihre Regeln nicht einhalten», sagt Sikorski. «Polen würde heute die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt nicht mehr erfüllen.»

Sie wollen von der EU profitieren, aber ihre Regeln nicht einhalten.
Autor: Radosław Sikorski Ehemaliger Aussenminister

Tatsächlich liegt die Regierung in Warschau wegen ihrer Eingriffe in die Unabhängigkeit der Gerichte in einem Dauerclinch mit der Union. Die EU-Kommission hat mehrere Verfahren gegen Polen eröffnet, der Europäische Gerichtshof das Land schon mehrfach verurteilt wegen Verstössen gegen die Grundwerte der EU.

«Man will uns Moralvorstellungen aufzwingen»

Für Zdzisław Krasnodębski ist das alles ein grosses Missverständnis. Er ist ein Vertrauter von Jaroslaw Kaczynski und sitzt für die polnische Regierungspartei im Europäischen Parlament. Er sagt, es gehe der Regierung in Warschau nicht darum, die Gerichte unter Kontrolle zu bringen. Man wolle die Justiz effizienter machen und die Vetternwirtschaft an den Gerichten ausmerzen.

Radosław Sikorski und Zdislaw Krasnodębski
Legende: Für Oppositionspolitiker und Europaparlamentarier Radosław Sikorski sind Politiker wie Zdislaw Krasnodębski, Europaparlamentarier von der Regierungspartei PiS, «nationale Sozialisten». keystone/imago

«Daraus zu machen, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit seien bedroht, ist Unsinn», sagt der emeritierte Soziologieprofessor. Die Gerichte in Polen funktionierten nach den gleichen Regeln wie anderswo in Europa.

«Man will uns Moralvorstellungen aufzwingen», ist Krasnodębski überzeugt Die polnische Regierung werde an den Pranger gestellt, weil sie für ein traditionelles Familienmodell einstehe, gegen Abtreibung sei und gegen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. «Wir sind nicht anti-europäisch. Wir haben den Eindruck, wir vertreten die wahren europäischen Werte.»

Wir sind nicht anti-europäisch. Wir haben den Eindruck, wir vertreten die wahren europäischen Werte.
Autor: Zdzisław Krasnodębski Europa-Parlamentarier für Polens Regierungspartei

Allerdings hat die Europäische Union gar nicht die Kompetenz, ein Land zu einem liberaleren Abtreibungsrecht oder zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu zwingen.

«Nationale Sozialisten»

Für Oppositionspolitiker Radosław Sikorski sind die Politiker von der Regierungspartei PiS «nationale Sozialisten». Ihre nationalistische Propaganda und sozialistische Wirtschaftspolitik sei eine politisch potente Mischung, sagt er.

Worauf Sikorski mit der sozialistischen Wirtschaftspolitik anspielt, ist das in Polen immens populäre Kindergeld 500-plus und andere Sozialleistungen, welche die PiS-Regierung eingeführt hat. Sie sind ein wesentlicher Grund dafür, dass die Regierungspartei von Jarosław Kaczynski in den letzten fünf Jahren alle Wahlen auf nationaler Ebene gewonnen hat.

Dass Sikorskis Partei, die liberale Bürgerplattform, 2015 nach acht Jahren an der Macht die Wahlen verloren und sich davon nicht mehr richtig erholt hat, führen viele auf ein Versäumnis zurück. Die liberale Regierung hatte Polen zwar erfolgreich durch die Finanzkrise gesteuert. Aber auch Leute aus den eigenen Reihen sagen, sie haben es verpasst, für jene zu sorgen, die die mit dem rasanten wirtschaftlichen Wandel des Landes nicht mitgekommen sind. Ein Fehler, sagt auch Sikorski, der damals Minister war.

Maria und Kulturpalast und Frauenstreik
Legende: Gespaltenes Land: Zwischen Maria und Frauenstreik. SRF

Die Polen haben sich gegenseitig verloren

«Noch ist Polen nicht verloren», heisst es zu Beginn der polnischen Nationalhymne. Das ist Polen ganz sicher nicht. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht ist das Land so robust wie noch kaum je. Aber es scheint, als hätten sich die Polen gegenseitig verloren.

Die lesbische Katholikin und der erzkonservative Priester, der radikale Abtreibungsgegner und die Anti-Regierungs-Demonstrantin, der ehemalige Aussenminister und der konservative Soziologieprofessor – alle wünschen sie sich, dass sich die beiden Lager in der polnischen Gesellschaft wieder besser zuhören. Alle klagen über die Gehässigkeit, welche die polnische Politik vergiftet und eben auch die Stimmung bei vielen Familientreffen. Alle wünschen sich, die beiden Seiten würden sich wieder ein wenig annähern.

Aber alle sagen: Den ersten Schritt müssen die anderen tun.

International, 26.02.2021; 20:00 Uhr

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