Arif Ayhan sitzt an seinem Webstuhl. Er webt an einem Kilim, einem Teppich aus Schafwolle. Mit einem Kamm schiebt er die gewobenen Bahnen näher zusammen. Danach muss er ein Schiffchen entwirren, jenes mit dem violetten Garn.
Kürzlich bekam auch er, wie alle anderen im alten Bazaar von Hasankeyf, den offiziellen Brief mit dem Auszugsdatum: Ende Jahr. «Wir wollen hier nicht weg, aber was können wir machen? Nichts», klagt Ayhan.
Umzug nach mehr als 500 Jahren
Er will gehört haben, dass die Behörden das nahe Minarett verschieben und es nach Neu-Hasankeyf auf der anderen Talseite transportieren wollen, auf einer eigens dafür erstellten Strasse, die so breit sein werde, dass zuerst die Werkstätten und Läden des Bazaar abgerissen werden müssten.
Bereits im Mai sind die Bewohner Zeugen einer grossen Zügelaktion geworden. Damals wurde das mehr als 500 Jahre alte Zeynelbey-Grabmal vom Ufer des Tigris in den Archäologie-Park in Neu-Hasankeyf versetzt – in eine Art Disneyland für alte Monumente, wie Kritiker monieren.
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Bild 1 von 11. Neben dem historischen Städtchen Hasankeyf werden in der Region 200 weitere Siedlungen geflutet. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 11. Heute leben noch rund 3000 Menschen in der antiken Stadtfestung. Vor fünf Jahren waren es noch mehr als 6000. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 11. Bei den mittelalterlichen Ruinen der Oberstadt haben Arbeiter mit Sprengungen begonnen, um mit Geröll später den Fluss zu stauen. Bei diesen Arbeiten zerstörten sie auch Jahrhunderte alte Wohnhöhlen. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 11. Die 1116 erbaute Brücke hat bereits heute ausgedient. Sie bestand teilweise aus Holz, welches die Bewohner jeweils entfernten, wenn Feinde anrückten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 11. Um der Überflutung zu entgehen, wurde im Mai 2017 das Zeynel-Bey-Mausoleum mit einem speziellen Transporter versetzt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 6 von 11. 2018 werden 80 Prozent der historischen Plätze mit Wasser aus dem Tigris überflutet sein, nachdem der riesige Damm in Betrieb genommen wurde. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 11. Das Bild zeigt den Bau des Ilisu-Staudamms im November 2008 – aktuelle Bilder gibt es kaum. Bildquelle: KEYSTONE EVB Mujgan Arpat.
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Bild 8 von 11. Im selben Jahr demonstrieren die Bewohner der Stadt Hasankeyf gegen das umstrittene Projekt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 11. Auch im Ausland gab es über die Jahre Proteste gegen den Bau in der Türkei, wie etwa hier in Bern... (12. Dezember 2006). Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 11. ... oder in Berlin. (14. März 2007). Bildquelle: Reuters.
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Bild 11 von 11. Genützt haben die Demonstrationen nichts: Mehrere Zehntausend Menschen müssen nun umsiedeln. Bildquelle: Keystone.
Der Ilisu-Damm ist einer der umstrittensten Wasserkraftwerk-Bauten. Ursprünglich sollten auch Schweizer Firmen mitbauen. Doch der Widerstand war von Anfang an gross. Es gab Demonstrationen und NGOs sammelten Unterschriften gegen den Bau. Denn die Türkei hatte weder für die Umsiedlungen, noch den Umwelt- oder den Kulturgüterschutz überzeugende Pläne vorlegen können – trotz mehrmaligen Anmahnungen durch ausländische Regierungen und internationale Organisationen.
Die Schweiz macht nicht mit
2009 annullierte darum der Bundesrat die Exportrisiko-Garantie. Die meisten Schweizer Firmen zogen sich zurück. Allerdings nicht alle: Die Ingenieure von Stucky, die heute zur Gruner Gruppe gehören, und die Firma Maggia aus Locarno machten trotzdem weiter. Auf eine aktuelle Stellungnahme wollen beide Unternehmen verzichten, wie sie SRF schrieben. In ihren Imagebroschüren werden Arbeiten am Ilisu-Staudamm allerdings stolz präsentiert.
Hasankeyf, das Städtchen mit seinen 3000 Einwohnern am Tigris, war einst ein wichtiger Knotenpunkt der Seidenstrasse auf dem Weg ins Morgenland. Auch die Römer siedelten hier und es gibt Spuren aus Byzantinischer Zeit, als Hasankeyf Bischofssitz war.
Im September haben Bauarbeiter unerwartet am Fusse der mittelalterlichen Stadtanlage mit Sprengungen angefangen. Erst die Detonationen haben die Einwohner alarmiert. Dabei sollen auch alte Wohnhöhlen beschädigt worden sein. Offiziell heisst es, man tue diese Arbeiten aus Sicherheitsgründen – wegen drohendem Steinschlag. Die Bewohner glauben dieser Erklärung nur halbwegs.
«Wissen ist Macht»
«Warum war die Bevölkerung nicht vorinformiert über die Sprengungen?», fragt John Crofoot rhetorisch. Der amerikanische Orientalist und Aktivist sitzt in einer kleinen Imbisstube und isst einen Käsetoast, schwarze Oliven und Tomaten als Garnitur dazu. Crofoot verbringt seit einigen Jahren die meiste Zeit in Hasankeyf.
Er hat beobachtet, dass rund um das Staudamm-Projekt und die Umsiedlung wenig Transparenz herrsche und statt gesicherten Informationen Gerüchte und Verschwörungstheorien die Runde machten. Doch dieser Mangel an Transparenz könne auch Teil der Regierungsstrategie sein, wiegt der Mittfünfziger ab: «Wissen ist Macht. Indem die Informationen nicht oder nur partiell geteilt werden, hält man die Leute klein.»
Er selber wollte sich Informationen über die Umsiedlung der Monumente in den Archäologie-Park besorgen. Bis heute weiss John Crofoot nicht genau, wann und welche Bauten verschoben werden sollen.
Know-how nicht vorhanden
Das Zeynelbey-Grabmal wurde im Mai unter der technischen Leitung einer holländischen Firma versetzt. Das Know-how für einen solchen Transport sei in der Türkei nicht vorhanden, sagt Orientalist Crofoot. Für ihn ist es unfassbar, dass ausgerechnet eine europäische Firma hier als Steigbügelhalter fungierte und das allerwichtigste kulturelle Erbe aus Hasankeyf heraustransportiert hat.
Zurück in der Webstube: Arif Ayhan, der Weber in vierter Generation, streicht mit seiner Hand über den Teppich. Ob er es noch schafft, ihn fertig zu machen? Den alten Webstuhl wird er nicht mitnehmen können in die Retortenstadt.