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Einkaufstourismus Tschechen überrennen Polens Supermärkte und sorgen für Ärger

In den Grenzstädten ärgern sich viele heftig über die vielen Einkaufstouristen. Mit viel Drama, so die Korrespondentin.

Einer Sache sind sich viele Polinnen und Polen sicher: Das Land wird seit jeher übergangen, überrannt, von den Schweden, den Deutschen, den Russen – und nun von den Tschechinnen und Tschechen. Sollte ein Land so etwas wie ein Lebensgefühl haben, in Polen wäre es das Gefühl, zu kurz zu kommen.

Wer braucht denn so viel?

Im Moment blüht dieses Gefühl im Südwesten, im Städtchen Bogatynia: Dort, wo Polen, Tschechien und Deutschland zusammenkommen, sagen die Einheimischen, es gebe morgens um sechs keinen Parkplatz mehr für sie. Im Supermarkt kein Durchkommen, und spätestens um drei Uhr nachmittags weder Früchte noch Gemüse in den Regalen.

Windeln finde man nur noch im Einkaufskorb tschechischer Familien. Wie Heuschrecken fielen die Tschechen über Bogatynias Läden her, sagen die Polinnen. 50 Packungen Rahm kauften sie, wer braucht denn so viel?

«Polen: Einkaufstipps und Empfehlungen»

Ein Lokalpolitiker hat Flugblätter verteilt, übersetzt auf Tschechisch, die Kauffreudigen aus dem Nachbarland sollten sich doch bitte zivilisiert benehmen. Den polnischen Kindern fehlten die Vitamine! Und dann ist auch noch Vorweihnachtszeit, da muss man einkaufen können, ein polnisches Weihnachtsmahl hat zwölf Gänge

Journalistinnen kommen, Bürgerinnen verlangen in Fernsehen und Zeitung, dass die Tschechen nur noch bestimmte Mengen Essen kaufen dürfen.

Tschechinnen und Tschechen, sagt man hier in Osteuropa, seien pragmatisch. Das findet bestätigt, wer auf Facebook die tschechische Gruppe namens «Polen: Einkaufstipps und Empfehlungen» besucht – fast 140'000 Mitglieder, Fotos und Schwärmereien von «cremigem» Joghurt, «saftigen» Würsten, halb so teuer wie in Tschechien und – «Frauen, ich kann's kaum glauben», schreibt ein Gruppenmitglied – auch Tampons zum halben Preis.

Hohe Teuerung

Der ganze Monatseinkauf kostet in Polen die Hälfte. Ein Tscheche fährt dafür 200 Kilometer weit; eine Tschechin fragt, wer mitkommen will, um fünf Uhr morgens geht's los, um neun muss sie wieder zurück sein, dann geht ihr Mann arbeiten. Einige schämen sich zwar für ihre Landsleute, «wir schnappen uns das Klopapier, bevor die polnischen Ladenmitarbeiter es auf den Regalen verteilt haben», schreiben sie.

Stärker als die Scham ist aber in Osteuropa die Angst vor rasend schnell steigenden Preisen. In Polen sieht man an der Supermarktkasse, wie Rentner Nudeln zurückgeben: vor einem Monat noch bezahlbar, jetzt zu teuer. In Tschechien ist es noch schlimmer, dort ist die Teuerung bei fast 20 Prozent angekommen – in einem Zeitungskommentar schreibt eine Frau, sie kaufe in Polen ein, damit ihre Familie überhaupt anständig essen könne.

Gewisser Hang zur Dramatik?

Im polnischen Bogatynia werden die Menschen auf jeden Fall nicht zu kurz kommen: Neue Läden eröffnen, die Nachfrage ist ja da. Und, sagen die pragmatischen Tschechen, vergesst nicht, liebe Polen, wie gerne ihr zu uns kommt, um unsere Depots mit billigerer tschechischer Kohle leerzukaufen.

Was sie nicht sagen, aber vielleicht denken: Bei ihrer heftigen Reaktion auf die tschechischen Einkaufstouristen haben sich die Polen vielleicht hinreissen lassen von einem gewissen Hang zur Dramatik.

Rendez-vous, 30.11.2022, 12:30 Uhr

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