Das Wichtigste in Kürze
- In China verschwinden pro Jahr mehrere tausend Kinder
- Sie werden von Menschenhändlern gestohlen
- Erst seit einem Jahr steht auch das Kaufen von Kindern unter Strafe
- Shen Hao versucht, die entführten Kinder zu finden und zu ihren Familien zurückzubringen
Shen Hao ist auf Geschäftsreise in der südwestlichen Megametropole Chongqing, er steigt in einem Hotel beim Hauptbahnhof ab. Der 47-Jährige hat graue Haare, er sieht müde aus. «Hier, das sind meine Spielkarten», Shen Hao wirft vier blaue Schachteln auf den Tisch.
Darin befinden sich Pokerkarten, aber keine gewöhnlichen. Auf der Schaufel 6 etwa prangt das Bild eines sechsjährigen Jungen, er trägt einen blauen Trachtenhut. 1990 geboren, 1996 verschwunden, inklusive Angaben zur Strasse, der Stadt und der Provinz.
US-Terrorfahndung im Irak als Vorbild
Shen Hao ist hauptberuflich Informatiker, in seiner Freizeit hilft er bei der Suche nach vermissten Kindern. Auf die Idee mit den Spielkarten kam Shen Hao nach einem Zeitungsartikel: «Die USA haben im Irakkrieg Spielkarten gedruckt mit den Bildern von gesuchten Mitgliedern von Saddam Husseins Regierung. Da habe ich mir gedacht, weshalb kann man das nicht auch bei Vermissten machen?»
Zuvor hatte er Plakate drucken lassen, T-Shirts mit vermissten Kindern, ja sogar Fächer. Wirklich gut liefen aber nur die Spielkarten, sagt Shen Hao, weil sie die Menschen regelmässig anschauen.
Es gibt Eltern, die unbedingt einen Sohn wollen. Wenn sie selbst keinen auf die Welt bringen können, überlegen sie sich eben, einen zu kaufen.
Die Karten verteilt er jetzt auch an Taxifahrer im ganzen Land, die wiederum an die Fahrgäste weitergeben: «Am Anfang hatte ich nur eine Webseite und ein Kartenset. Dann begannen die Medien über mich zu berichten. Darauf meldeten sich immer mehr Menschen, die helfen wollten. Inzwischen gibt es ein Heer an Freiwilligen. Sie haben wiederum selber Gruppen gebildet, die über ganz China verteilt sind und nach vermissten Kindern suchen.»
Ein-Kind-Politik trug das Ihre dazu bei
Mehrere Tausend Kinder und Babys werden in China jedes Jahr entführt und verkauft. Chinas Ein-Kind-Politik, die über drei Jahrzehnte lang galt, hat das Problem zusätzlich verschärft.
So berichten chinesische Medien immer wieder von Fällen, in denen Kinder von kriminellen Gangs entführt und durchs ganze Land transportiert werden. Die Abnehmer sind Familien, die bereit sind, für ein Kind zu bezahlen. Sie bezahlen für Knaben mehr als für Mädchen: «Es gibt Eltern, die unbedingt einen Sohn wollen. Wenn sie selbst keinen auf die Welt bringen können, überlegen sie sich eben, einen zu kaufen.»
Die zunehmende öffentliche Entrüstung zwang die Behörden zum Handeln. Inzwischen gibt es eine nationale Task Force und eine landesweite DNA-Datenbank, die helfen sollen, Familien zusammenzuführen.
Kinder wissen nicht, dass sie andere Eltern haben
Und seit rund einem Jahr machen sich nicht nur die Entführer und Menschenhändler strafbar, sondern auch die Eltern, die für ein Kind bezahlen.
Doch die Suche nach vermissten Kindern ist noch immer schwierig. Viele Kinder wüssten gar nicht, dass sie nicht in ihrer eigenen Familie aufwachsen würden, sagt Shen Hao. Andere wiederum hätten nur vage Erinnerungen an ihr ursprüngliches Zuhause. «Der Fall eines Gymi-Schülers ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er war mit ein Grund, weshalb ich schliesslich Pokerkarten drucken liess.»
Die Erfolgsrate ist sehr tief. Bei mir beträgt sie rund 5 Prozent, auf anderen Suchportalen in China sind es wahrscheinlich noch weniger.
Der Jugendliche habe noch vage Erinnerungen an seinen Heimatort gehabt: «An einen Traktor im Feld konnte er sich erinnern, und dass es dort flach gewesen sei.»
Shen Hao fuhr am Anfang noch selbst durch mehrere Provinzen, ohne Erfolg. Er konnte dem jungen Mann nicht helfen. Sieben Jahre später meldete sich ein Familienmitglied bei ihm. Es war der ältere Bruder des Vermissten, aus der Provinz Shaanxi, 800 Kilometer entfernt.
Einige Eltern verkaufen ihre eigenen Kinder
Doch nicht alle Geschichten haben ein Happy End. «Neben Entführungen gibt es auch Fälle, in denen die Eltern ihre Kinder selbst verkaufen, und damit Geld verdienen. Das heisst, die Eltern sind nicht Opfer, sondern sie sind selbst Teil dieses Menschenhandels.»
Diese Familien, sagt Shen Hao, könne er nicht zusammenführen. Und auch bei den entführten Kindern sind seine Spielkarten nur ein Tropfen auf den heissen Stein: «Die Erfolgsrate ist sehr tief. Bei mir beträgt sie rund 5 Prozent, auf anderen Suchportalen in China sind es wahrscheinlich noch weniger.»
Er mache sich da keine Illusionen, sagt Shen Hao. Die meisten Vermissten, deren Gesichter er auf die Spielkarten drucke, würden nie gefunden werden. Für die Fotos auf den Karten gibt es kein Verfallsdatum.
Solange sie nicht gefunden werden, lässt Shen Hao ihre Porträts auf der nächsten Auflagen erneut drucken. 60 Porträts musste er in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr neu drucken lassen. Es sind 60 Familien, die Shen Hao wieder zusammenführen konnte.