Die Szene ist verstörend. Für ihren Propagandafilm «Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet» liessen die Nationalsozialisten zwei Fussballmannschaften gegeneinander antreten. Alle Spieler, alle Zuschauer waren Gefangene der Nazis, die meisten Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich. Das Ziel der Nazis: Der Welt vorgaukeln, die Juden lebten in Theresienstadt wie in einer normalen Kleinstadt.
Die inszenierte Normalität
Wie infam diese Lüge ist, wissen Holocaust-Überlebende wie Inge Kahn. Sie wurde als Kind mit ihrer Familie aus Deutschland nach Theresienstadt deportiert und hat später der Shoah Foundation ihre Erinnerungen erzählt. «Wir kamen mit zwanzig Personen in ein leeres Zimmer. Es gab nichts. Es gab weder eine Matratze noch eine Decke noch einen Nagel an der Wand. Es war ein leeres Zimmer.»
Wie in anderen Konzentrationslagern waren die Lebensbedingungen auch in Theresienstadt schrecklich. Das Lager in der barocken Garnisonsstadt war völlig überfüllt, die Zwangsarbeit hart, die Lebensmittel knapp. 30'000 Gefangene starben bereits in Theresienstadt. 90'000 brachten die Nazis von hier in Vernichtungslager, vor allem nach Auschwitz, und ermordeten sie dort – so wie viele von Inge Kahns Verwandten, so wie die Fussballer aus dem Propagandafilm.
Eine Schande für ganz Tschechien.
Heute stolpert man auf dem Hof der Grossen Infanteriekaserne über zerbrochene Ziegel. Dort, wo einst Gefangene für die Kameras der Nazis Tore schossen, wachsen Himbeersträucher aus der Pflästerung. Wo das hohe Dach der Kaserne bereits eingestürzt ist, stemmen sich grob zugehauene Baumstämme gegen die bröckelnde Fassade.
«Diese Kaserne ist das bekannteste Gebäude von Theresienstadt. Es ist gleichzeitig das am stärksten verfallene. Eine Schande für ganz Tschechien», sagt Jiri Hofmann. Der Historiker leitet das örtliche Tourismusbüro.
Terezin, so heisst das Städtchen auf Tschechisch, sieht heute noch weitgehend so aus wie Ende des 18. Jahrhunderts. Grosse, weisse Gebäude, schachbrettartig angelegt um einen grossen Platz im Zentrum, eingerahmt von Festungsmauern und einem Stadtgraben.
Der Habsburgerkaiser Joseph II. liess die Garnisonsstadt als Festung gegen die Preussen bauen. Bis die Nazis das Städtchen 1941 zum Ghetto machten, lebten hier über 7000 Menschen.
Und so ging es nach dem Krieg weiter. Das Ghetto wurde wieder zur Militärstadt. Bis 1996 prägte erneut die Armee – zuerst die tschechoslowakische, später die tschechische – das Leben in Terezin. Dann wurden die Soldaten abgezogen.
Zu viel Stadt für zu wenige Menschen
«Der Staat hat uns damals diese riesigen, historisch bedeutenden Gebäude übergeben», sagt Robert Czetmayer, der Stadtbaumeister von Terezin. «Aber wir bekamen kein Geld für ihre Sanierung».
Kommt dazu, dass die Stadt mit dem Abzug der Armee auf einen Schlag drei Viertel ihrer Einwohnerinnen und Einwohner verlor. «Das ist bis heute das Hauptproblem von Terezin. Wir haben zu wenig Einwohnerinnen und Einwohner», sagt Czetmayer. 2000 Menschen leben in einer Stadt, die gross genug ist für 8000.
Terezin profitiert kaum vom Tourismus
Durch ein geborstenes Fenster im obersten Stock der Kaserne geht der Blick auf die andere Seite des Flusses. Dort, in der Kleinen Festung – einem kleineren Fort ausserhalb der Stadtmauern –, ist die offizielle Holocaust-Gedenkstätte eingerichtet. Die Ausstellung im ehemaligen Gestapo-Gefängnis zieht jedes Jahr rund 300'000 Besucherinnen und Besucher an.
«Aber die Stadt hat kaum etwas davon. Die meisten Touristen geben ihr Geld da drüben aus und kommen gar nicht zu uns ins Städtchen», sagt der Leiter des städtischen Tourismusbüros, Jiri Hofmann.
Fragt sich, wieso nicht die Gedenkstätte, die vom Kulturministerium finanziert wird, für den Erhalt der Grossen Infanteriekaserne aufkommt. «Wir haben kein Geld dafür. Unser Budget ist für das Museum in der Kleinen Festung und unsere eigenen Gebäude bestimmt», antwortet Vojtech Blodig, der Vizedirektor der Gedenkstätte Theresienstadt. Dabei wäre ein Zerfall der historisch so wichtigen Infanteriekaserne auch in seinen Augen eine Katastrophe.
Rettung dank Corona?
Zurück im Kasernenhof, stapft der Stadtbaumeister durchs Gebüsch, deutet auf das eingestürzte Dach der Kaserne und sagt, es blieben noch zwei, drei Jahre. Dann sei der Schauplatz des infamen Fussballspiels von Theresienstadt so zerfallen, dass er nicht mehr gerettet werden könne.
Allerdings ist er dank Corona zuversichtlich, dass es nicht so weit kommen wird. Terezin soll für die Sanierung der Infanteriekaserne rund 40 Millionen Franken aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU bekommen.
Eine Nutzfläche so gross wie zehn Zürcher Bahnhofshallen
Wer soll das Gebäude dereinst nutzen? Die Fläche, die es zu füllen gilt, ist so gross wie zehn Zürcher Bahnhofshallen – und das in einer verschlafenen Kleinstadt.
Terezin soll kein Freilichtmuseum werden, sondern wieder eine lebendige Stadt.
Stadtbaumeister Czetmayer möchte in einem Drittel der Kaserne Wohnungen bauen, in einem Drittel Gewerbebetriebe einrichten und im letzten Drittel öffentliche Einrichtungen ansiedeln, neben einer Ausstellung zum berühmt-berüchtigten Fussballspiel auch eine Schule oder einen Kindergarten. «Dieses Gebäude muss zur Wiederbelebung der Stadt beitragen. Gelingt das, könnte Terezin zu einem Juwel werden.» Die Erinnerung an den Holocaust zu erhalten ist für den Stadtbaumeister eher ein Nebeneffekt.
Mit einem grossen Schlüssel schliesst Czetmayer das Tor zur zerfallenden Kaserne wieder und sagt zum Abschied: «Terezin soll kein Freilichtmuseum werden, sondern wieder eine lebendige Stadt.» So wie vor und nach dem Holocaust und bis zum Abzug der tschechischen Armee.