Überraschende Wende im Gezi-Prozess in der Türkei: Der am Dienstag freigesprochene Intellektuelle Osman Kavala ist am Abend wieder verhaftet worden. Gegen den Kulturmäzen wurde ein neuer Haftbefehl mit neuen Vorwürfen ausgestellt. Dieser steht im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch von 2016, berichtet die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Journalist Thomas Seibert ortet einen Machtkampf rivalisierender Lager im Staatsapparat.
SRF News: Was wird Kavala konkret vorgeworfen?
Thomas Seibert: Die Staatsanwaltschaft hält ihn für einen Mitverschwörer des Putschversuches vom Juli 2016. Damals hatten Kräfte innerhalb des türkischen Militärs versucht zu putschen, offenbar mit Unterstützung einer islamistischen Gruppe um den Prediger Fethullah Gülen. Wie der linke Intellektuelle Kavala in dieses Bild passen soll, hat die Staatsanwaltschaft bisher nicht erklären können. Das alles ist etwas seltsam.
Wie ist die Kehrtwende zu erklären?
In der Türkei werden solche Urteile nicht nach rechtsstaatlichen Kriterien gefällt. Die Justiz ist besonders bei derartigen Fällen unter starkem Einfluss der Politik. Es gibt sehr viele Leute – besonders Oppositionelle – die von einem Machtkampf innerhalb des Staatsapparates sprechen.
Kavalas Schicksal hat Signalwirkung nach innen und nach aussen.
Demnach wollte das eine Lager Kavala freisprechen, um ein Signal an Europa zu senden, dass sich die Türkei wieder annähern wolle. Das sei aber vom rivalisierenden Lager zunichte gemacht worden. Unter dem Strich geht es um politische Abrechnungen – nicht um juristische Wahrheitssuche.
Die anderen Angeklagten wurden freigesprochen und aus der Untersuchungshaft entlassen, Kavala nicht. Warum?
Er ist ein besonders prominenter Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft. Er war auch ein wichtiger Partner für europäische Institutionen bei Projekten in der Türkei und Gesprächspartner von Regierungen und hochranginger Politiker. Sein Schicksal hat Signalwirkung nach innen und nach aussen.
Beobachter deuteten die Freisprüche als Zeichen der Annäherung gegenüber Europa. Sie haben sich im Interview mit uns am Dienstagabend ähnlich geäussert. War das eine Fehleinschätzung?
Es geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Es gibt ganz klare Anzeichen aus der Regierung, die auf den Versuch einer Wiederannäherung an Europa hindeuten. Auch bei anderen Themen. Viele regierungsnahe Beobachter im Land fordern das – unter anderem, weil die Beziehungen zu Russland derzeit wegen der Syrien-Krise in schweres Fahrwasser geraten sind.
Präsident Erdogan hat sich selbst noch nicht zum Fall Kavala geäussert. Letztendlich ist er der entscheidende Mann.
Es gibt aber auch widerstrebende Kräfte. Präsident Erdogan hat sich selbst noch nicht zum Fall Kavala geäussert. Letztendlich ist er der entscheidende Mann. Diese Fälle sind so unberechenbar, weil verschiedene Kräfte im Staatsapparat die Justiz benutzen.
Wie geht es nun weiter für Kavala?
Erst einmal dürfte er nicht freikommen und zunächst einem Richter vorgeführt werden. Seine Anwälte werden natürlich seine Freilassung fordern, weil es nicht besonders glaubwürdig wirkt, dass er an dem Putschversuch von 2016 beteiligt gewesen sein soll. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat sich ja bereits mit dem Fall Kavala befasst. Der Druck aus Europa wird weiter anhalten. Zudem wird die Opposition in der Türkei weiter seine Freilassung fordern.
Das Gespräch führte Roger Aebli.