SRF News: Was genau sagen die Verlierer zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs?
Urs Bruderer: Die Verlierer sagen dasselbe wie eh und je: Diese Quote funktioniere nicht, sie könne nicht funktionieren. Diese Flüchtlinge wollten ja gar nicht zu ihnen kommen, warum sollte man sie denn aufnehmen? Die slowakische Regierung hat sich aber entschieden, dieses Urteil zu akzeptieren, zähneknirschend zwar. Das heisst wohl, dass sie eine weitere Handvoll
Flüchtlinge aufnehmen wird.
Die ungarische Regierung hingegen lehnt das Urteil ab. Sie hat weitere juristische Kämpfe angekündigt und davon gesprochen, dass die eigentliche Schlacht erst anfange. Auch die polnische Premierministerin hat schon angekündigt, sie denke nicht an einen Kurswechsel. Auch Polen wird sich weiterhin weigern, Flüchtlinge aufzunehmen.
Die Sehnsucht nach dem Kommunismus ist vielerorts am Abklingen, aber die Gesellschaft ist viel weniger liberal eingestellt als die Westeuropas.
Ungarns Aussenminister spricht von einem «politischen Urteil». Wird da die Fairness angezweifelt?
Er sprach von einem politischen Urteil, von einem ungeheuerlichen Urteil, von einem verantwortungslosen Urteil. Er sagte sogar, da habe die Politik das EU-Recht vergewaltigt. Meines Erachtens zeugen diese unglaublich scharfen Töne nicht nur von mangelndem Respekt des ungarischen Aussenministers gegenüber den EU-Institutionen, gegenüber der Justiz und gegenüber der Gewaltenteilung, sie beweisen vor allem auch, dass die ungarische Regierung weiterhin am unbedingten Willen festhält, die Fakten so zu interpretieren, dass sie zu ihrer eigenen Verschwörungsgeschichte passen.
Diese Geschichte geht ungefähr so: Die ungarische Regierung verteidigt Ungarn während liberale westeuropäische und Brüsseler Kräfte Ungarn gefährden oder das Land gar mit einem unkontrollierten Ansturm von illegalen Migranten zerstören wollen. Und in dieses Muster musste das Urteil eingepasst werden.
Ist das ein genereller Tenor in Osteuropa, dass man sich gegen Brüssel wehren muss?
Tatsächlich gibt es bei vielen Regierungen im Osten der Union ein gewisses Unbehagen an der EU. Es gibt dieses Gefühl, die eigene Stimme zähle weniger als die anderer EU-Staaten, insbesondere Deutschlands. Was manchmal übersehen wird, ist, dass in der EU vor allem die Kunst zählt, Koalitionen schmieden zu können.
Die polnische und ungarische Regierung sagen es ziemlich deutlich, andere lassen es nur durchblicken: Sie haben das Gefühl, sie erhalten zwar EU-Gelder, müssen dafür aber den Mund halten. Das führt dazu, dass der tschechische Präsident heute sagte, dass man lieber auf EU-Gelder verzichten sollte, anstatt muslimische Flüchtlinge ins Land zu lassen. Damit streut er den Wählern Sand in die Augen, denn eine solche Alternative stellt sich derzeit gar nicht.
Der Vorwurf aus Brüssel und den alten EU-Staaten lautet: «keine Solidarität». Wie sieht das aus Sicht der osteuropäischen Länder aus?
In den osteuropäischen Ländern hört man immer wieder, Solidarität sei ein schlechtes Argument, denn Solidarität impliziere Freiwilligkeit. Man kann niemanden zu Solidarität zwingen. Hinzu kommt das Gefühl, man würde hier in Osteuropa zum Teil um den Anteil am europäischen Erfolg geprellt. Man sieht zum Beispiel sehr viele westeuropäische Supermarktketten, die hier grosse Geschäfte machen und oft wenig Steuern bezahlen.
Umgekehrt hat man jetzt zum Beispiel einen Streit mit Frankreich, weil osteuropäische Spediteure ihre günstigeren Lastwagenchauffeure durch ganz Europa fahren lassen oder weil osteuropäische Unternehmen günstigere Arbeiter in Westeuropa arbeiten lassen. Dagegen wehrt sich derzeit der französische Präsident Macron.
In der Zwischenzeit gibt es bei vielen Themen Widerstand und Widerspruch, nicht nur bei der Flüchtlingsfrage. Osteuropäische Länder waren einmal begeisterte EU-Befürworter. Was ist geschehen?
Die Bevölkerung ist eigentlich immer noch ein ziemlich grosser EU-Befürworter. Das zeigen Umfragen. Doch es ist auch eine gewisse EU-Müdigkeit zu spüren. Es ist die Enttäuschung, dass nach über einem Vierteljahrhundert immer noch dieser Abstand zu Westeuropa besteht. Man sieht vor allem den wirtschaftlichen Rückstand und nicht die Fortschritte, die es auch gegeben hat.
Insbesondere in Polen und Ungarn steht die Bevölkerung immer noch mehrheitlich klar hinter der EU, trotz der scharfen Anti-EU-Rhetorik ihrer Regierungen.
Wo zeigt sich dieser Graben sonst noch?
Er zeigt sich vor allem in den Einstellungen der Bevölkerung dieser EU-Länder. Sie ist nach wie vor viel homogener, aber auch viel konservativer. Die Wähler sehnen sich nach wie vor nach autoritären und auch populistischen Politikern, egal, wie die es mit der Medienfreiheit oder dem Rechtsstaat halten.
Man sieht es auch am Erfolg der Kirche, die hat in Osteuropa mehr Zulauf und mehr Einfluss als in Westeuropa. Und man erkennt es am Erfolg konservativer Anliegen, zum Beispiel des Abtreibungsverbots, das in Polen vielleicht nochmal verschärft wird oder der Ablehnung der Schwulenehe, die in Rumänien wieder ein Traktandum ist. Die Sehnsucht nach dem Kommunismus ist vielerorts am Abklingen, aber die Gesellschaft ist viel weniger liberal eingestellt als in Westeuropa.
Das Verhältnis der osteuropäischen Mitgliedstaaten zu Brüssel verschlechtert sich. Akzentuiert sich die Misere mit dem heutigen Urteil noch?
Natürlich verschärft das die Krise, zumal beide Seiten viel Energie in diesen Streit steckten und keine Lust haben, jetzt nachzugeben. Vor allem aber war dies auch der Konflikt, der beiden Seiten die Augen dafür öffnete, dass es nicht nur ein wirtschaftlicher Graben ist, der West- und Osteuropa trennt, sondern dass die Beziehung komplizierter ist. Das reicht tief in die Mentalitäten der Gesellschaften und wird die EU deshalb noch länger beschäftigen, als ihr lieb sein kann.