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EU-Ukraine-Gipfel EU-Erweiterungspolitik: Zeit für mehr Ehrlichkeit

«Wir haben bekräftigt, dass die Zukunft der Ukraine und ihrer Bürger in der Europäischen Union liegt.» Dieser Satz steht in der Schlusserklärung des EU-Ukraine-Gipfels vom Freitag in Kiew. Wann diese Zukunft beginnen soll, steht nicht drin.

Der Wunsch der Ukraine ist klar: Sie will möglichst bald Mitglied werden. Doch diesen Wunsch wird die EU so schnell nicht erfüllen können. Daran können auch die Beteuerungen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel zur europäischen Zukunft der Ukraine nichts ändern.

Einerseits ist die Ukraine – auch unabhängig vom Krieg – noch weit davon entfernt, die Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen. Enorme Anstrengungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Korruptionsbekämpfung sind nötig, um dies zu ändern.

Damit die Ukraine EU-Mitglied werden kann, muss sich aber nicht nur in der Ukraine einiges bewegen, sondern vor allem in der Europäischen Union. Letztlich sind es die Mitgliedstaaten, die einstimmig darüber entscheiden, ob die Union erweitert werden soll. Neue Mitgliedstaaten würden den bereits jetzt langwierigen Entscheidungsfindungsprozess in der EU noch komplizierter machen. In vielen EU-Staaten tendiert der politische Wille zu einer Erweiterung daher gegen null – insbesondere, wenn es sich um wirtschaftlich schwache Beitrittskandidaten handelt.

Ein mahnendes Beispiel für die Ukraine sind die Staaten auf dem Westbalkan. Seit zwei Jahrzehnten heisst es aus Brüssel, dass ihre Zukunft in der Europäischen Union liege. Auch in der Schlusserklärung des EU-Westbalkangipfels von 2003 in Thessaloniki heisst es: «Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.» Nur für Kroatien wurde dies Realität. Für alle anderen Staaten bleib es bisher ein leeres Versprechen. Der Frust in der Region über die EU wächst.

Reform der Erweiterungspolitik nötig

Die EU-Spitze scheint sich bewusst zu sein, dass ein Beitritt der Ukraine in weiter Ferne liegt. Sie macht denn auch keine zeitlichen Versprechen.

Viel ehrlicher wäre es aber, der Ukraine zu kommunizieren, dass ein Beitritt in absehbarer Zeit nicht realistisch ist. Die EU könnte stattdessen Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft anbieten, die für die Ukraine und andere annäherungswillige Staaten leichter zu erreichen sind. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR ist dabei nur eine Möglichkeit.

Die EU-Kommission hätte es in der Hand, Vorschläge zu präsentieren, wie die EU-Erweiterungspolitik der politischen Realität angepasst werden kann. Tut sie dies nicht, riskiert sie, dass ihre Bekundungen einer europäischen Perspektive für die Ukraine auch in Kiew bald nur noch als leere Versprechen angesehen werden.

Andreas Reich

EU-Korrespondent

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Andreas Reich ist seit November 2022 TV-Korrespondent von SRF in Brüssel. Zuvor arbeitete der studierte Jurist als Auslandredaktor und Onlineproduzent im SRF-Newsroom in Zürich und berichtete als freier Reporter aus Südosteuropa.

SRF 4 News, 3.2.2023, 12 Uhr

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