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International Ex-Diplomat: Israel lebt in einem «Universum der Angst»

Vor der Wahl ist nach der Wahl: Weiterhin dominiere die Sicherheitsfrage die israelische Politik, sagt der ehemalige israelische Botschafter und Regierungskritiker Avi Primor. Zwar gebe es Anzeichen für einen Wandel. Das Gefühl von Bedrohung habe andere Probleme aber überlagert.

SRF News: Premier Benjamin Netanjahus Likud-Partei ist aus den Wahlen als klare Siegerin hervorgegangen. Bis zuletzt hatten Beobachter und Umfragen jedoch noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Zionistischen Union von Herausforderer Jitzchak Herzog prognostiziert. Wie erklären Sie sich das?

Avi Primor: Die Wahlprognosen sind oft zu linkslastig, das Resultat fällt dann meist eher zugunsten des rechten Lagers aus. Netanjahu hat zudem zuletzt aggressive Angstpropaganda betrieben, mit der er im rechten Lager noch zusätzliche Stimmen mobilisieren und Unentschiedene umstimmen konnte.

Avi Primor

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Avi Primor war von 1987 bis 1993 erst israelischer Botschafter bei der EU, danach bis 1999 in Deutschland. Von dort wurde er wegen Kritik an Premier Netanjahu abgezogen. Heute ist Primor Vorsitzender eines Think Tanks zur israelischen Aussenpolitik und Präsident des Zentrums für Europäische Studien an der Universität Tel Aviv.

Die Sicherheitsfrage bestimmt die israelische Politik in weiten Teilen. So interpretieren zumindest Politbeobachter und verschiedene Medien den Wahlsieg Netanjahus. Warum ist das für eine Mehrheit scheinbar wichtiger als soziale und wirtschaftliche Themen?

Israel ist im Krieg entstanden und lebt seither im Kriegszustand. Dazu kommt das historische Gedächtnis: Die Verfolgung der Juden nimmt in der Schulbildung grossen Raum ein. Das schafft ein Universum der Angst. Netanjahu ist ein Experte darin, das politisch zu nutzen.

Noch ist Netanjahu nicht in seinem Amt bestätigt. Präsident Reuven Rivlin muss erst die Empfehlungen aller Parteichefs abwarten und dann einen Premier ernennen.

Rivlin ist ein Likud-Mann. Obwohl kein Netanjahu-Anhänger, wird er sicher seiner Partei treu bleiben und Netanjahu ernennen. Die für eine Regierungsbildung notwendige Mehrheit im Parlament dürfte Netanjahu zusammen bringen. Das rechte Lager und die Ultra-Orthodoxen werden ihn unterstützen. Damit fehlen ihm noch Stimmen aus der Mitte. Die dürfte er in Moshe Kahlons Kulanu-Partei finden, indem er Kahlon den gewünschten Posten als Finanzminister zugesteht.

Netanjahus Herausforderer Jitzchak Herzog verspricht mit seiner Zionistischen Union einen Wandel in der israelischen Politik, indem er auf soziale und wirtschaftliche Probleme fokussiert und eine stärkere Berücksichtigung der arabisch-israelischen Bevölkerung in Aussicht stellt. Ist dieser Wandel nun gescheitert?

Insofern, als dass Netanjahu ziemlich sicher an der Macht bleiben dürfte, ja. Allerdings hat Herzogs Arbeiterpartei mit der Unterstützung der ehemaligen Justizministerin Tzipi Livni von 15 auf 24 Sitze zugelegt. Die arabischen Israelis sind mit 14 Sitzen nun auf einen Schlag die drittgrösste Partei in der Knesset. Ihre Sitze reichen allerdings nicht, um den rechten Block zu blockieren – und Netanjahu wird nie mit ihnen zusammenarbeiten. Ohne Regierungsbeteiligung ist schwer abzuschätzen, was die arabische Allianz bewirken kann. Ob das Bündnis zudem längerfristig hält, ist unklar. Die Unterschiede zwischen den arabischen Kleinstparteien sind sehr gross.

Es scheint also, dass soziale Themen für die Bevölkerung wichtiger geworden sind, die Sicherheitsfrage aber immer noch überwiegt.

Das hängt von den Ereignissen ab. Bei Krieg und Terror spielen Wohnungsnot oder teure Lebensmittel keine Rolle mehr. Israel ist ein Stimmungsland und die Stimmung kann sich sehr schnell ändern. Der Erfolg des Mitte-Politiker Moshe Kahlon mit seinem rein sozialen Parteiprogramm zeigt die momentane Unzufriedenheit eines Teils der israelischen Bevölkerung in sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Das könnte so weitergehen – oder auch nicht. Im Jahr 2011 gab es etwa beispiellose Massendemonstrationen in Tel Aviv wegen sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Auf die Wahlen zwei Jahre später hatten die Proteste trotzdem keine Auswirkungen.

Was würde eine weitere Amtszeit Netanjahus für das Verhältnis zu den Palästinensern bedeuten?

Netanjahu versprach seinen Wählern in den letzten Tagen, unter seiner Ägide werde es keinen Palästinenserstaat geben. Die Zustimmung Netanjahus zu einer Zwei-Staaten-Lösung im Jahr 2009 ist also nur ein Lippenbekenntnis unter dem Druck der USA gewesen. Die expansive Siedlungspolitik in Ostjerusalem und im Westjordanland will Netanjahu weiterführen. Das Ziel seiner Siedlungspolitik: Die Annektion weiter Teile des Westjordanlands. Mit zwei palästinensischen Enklaven, die einen Grossteil der arabischen Bevölkerung beheimaten sollen, will Netanjahu verhindern, dass sich die Demografie Israels weiter in Richtung einer arabischen Mehrheit entwickelt.

Das Gespräch führte Hannes von Wyl.

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