Generalsekretär Jens Stoltenberg hat bei der Präsentation des Nato-Jahresberichts mit Genugtuung verkündet: «Trotz der gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie erhöhten die meisten Nato-Länder 2020 ihre Wehretats zum sechsten Mal in Folge.»
Dennoch bleibt das, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als «strategische Autonomie Europas» bezeichnet, in weiter Ferne. Europa ist weiterhin zwingend auf die USA angewiesen. Beim Internationalen Strategieinstitut IISS in London wurde dieser Tage ein Szenario diskutiert: ein Überfall Russlands auf die Nato-Mitgliedsländer Litauen und Polen.
Die Erkenntnisse findet Dana Allin vom IISS ernüchternd: «Ohne Unterstützung durch die USA wären die europäischen Länder kaum imstande, Russland zurückzuschlagen.» Es fehlt an Kampfflugzeugen, an Transportmitteln, an Panzern und an manchem mehr.
Mehr Mittel nötig
Laut Experten müsste Europa um die 300 Milliarden Dollar mehr in seine Verteidigung stecken, um ohne die USA bestehen zu können. Dies entspricht zwar weniger als der Hälfte des jährlichen Verteidigungsbudgets der USA. Doch der politische Wille fehlt, so viel Geld zusätzlich für Rüstung auszugeben.
Bereits die Intervention in Libyen 2011 habe gezeigt, wie rasch den Europäern militärisch der Schnauf ausgehe, sagt Hugo Meijer von der Universität Sciences Po in Paris. Ein Engpass seien die viel zu wenig rasch einsatzbereiten Kampfjets. Zudem besitze der europäische Teil der Nato keine von den USA unabhängigen Kommandostrukturen.
Und Europa vertraut derzeit auf die nukleare Abschreckung durch die USA. Es wäre, so Meijer, «höchst unwahrscheinlich, dass Frankreich bereit wäre, seine Atomstreitkräfte in den Dienst von ganz Europa zu stellen».
Fehlende politische Einigkeit
Die Frage stellt sich, wie stark und wie rasch sich die USA von Europa abwenden. Doch obwohl Europa gesamthaft bevölkerungsreicher ist als Russland, weitaus mehr für Rüstung ausgibt und in den meisten Waffengattungen auch über potentere Arsenale verfügt, könnte es auf sich allein gestellt Russland nicht entgegenhalten, schätzt der Sicherheitsexperte Barry Posen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Europas Problem ist nicht die militärische Hardware. Es ist die politische Uneinigkeit und der Mangel an Entschlossenheit. Da ist Russland besser aufgestellt. Hugo Meijer von der Universität Sciences Po spricht von einer «europäischen Kakophonie». Es werde Geld verschleudert mit nationalen Rüstungsprogrammen. Es fehle ein Konsens über strategische Prioritäten.
So sehe Frankreich die Hauptbedrohung nicht in Russland, sondern im Maghreb oder der Sahelzone. Ebenso viele südeuropäische Länder. So sei nicht klar, ob sich alle Nato-Länder nach einem hypothetischen russischen Überfall an einem Militäreinsatz beteiligen würden. Meijer vermutet: «Einige würden, andere nicht.» Das stellt die Grundidee der Nato, «einer für alle, alle für einen», infrage.
Für Bastian Giegerich vom Strategieinstitut IISS ist klar: «Würde die Nato nicht entschlossen reagieren, falls Nato-Mitglieder angegriffen werden, dann wäre die mächtigste Militärallianz der Welt am Ende.» Wie viel Entschlossenheit Russland der Nato zutraut, sei also entscheidend.
Wahrscheinlich nehmen die Differenzen unter den europäischen Nato-Staaten sogar noch zu, wenn sich die USA teilweise zurückziehen. Kurz: Die Forderung nach einer eigenständigen europäischen Verteidigung ist vorläufig Illusion.