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MIchael Haller bei einer Rede
Legende: Medienwissenschaftler Michael Haller untersuchte die deutsche Berichterstattung in der Flüchtlingskrise. Imago

Flüchtlings-Berichterstattung Die deutschen Medien hatten Schlagseite

Eine Studie zeigt: Deutsche Medien verloren in der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise die Distanz. Es habe keine tiefen Recherchen oder Reportagen vor Ort gegeben, meint Medienwissenschaftler Michael Haller.

Wie berichteten Medien über die europäische Flüchtlingskrise? Die Fragestellung ist pikant, wurde doch der Vorwurf laut, dass die Medien die Krise lange ignorierten, wenn nicht verschwiegen. «Lügenpresse» nannte sich das im Jargon der neuen Rechten in Deutschland.

Stimmt dieser Vorwurf? Das wollte der Medienwissenschaftler Michael Haller wissen. Er ist Direktor des europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung. 30'000 Berichte wertete er aus, in grossen Zeitungen wie der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Welt und der Bild-Zeitung, aber auch in Regionalzeitungen und Online-Portalen wie tagesschau.de und Spiegel Online.

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Haller kommt zum Schluss: Ja, die deutschen Medien hatten 2015 und 2016 tatsächlich Schlagseite. Sie übernahmen grösstenteils die Sichtweise der politischen Elite und verloren ihre kritische Distanz.

SRF News: Welche Geschichten und Bilder erhielten besondere Medienaufmerksamkeit?

Michael Haller: Da waren zunächst die sehr schockierenden Bilder von ertrinkenden, in ihrer Existenz bedrohten Flüchtlinge im Mittelmeerraum. Mit diesen Bildern ist eine Stimmung entstanden, die eine Mischung aus Entsetzen, aber auch Hilfsbereitschaft geweckt hat.

Inwiefern stützte das die Sicht der politischen Elite? Gibt es da einen Zusammenhang?

Da gibt es einen grossen Zusammenhang. Man muss schon sehen, dass die EU-Politik im Allgemeinen und die deutsche Politik im Besonderen den Gründen für den Flüchtlingsstrom mehr oder weniger hilflos gegenüber gestanden ist. Man hatte ja schon in den vorausgegangenen Jahren, in Bezug auf den Nahostkonflikt und den Krieg in Syrien, immer wieder angemahnt, dass die EU und insbesondere Deutschland etwas tun müsse. Und zwar vor Ort, um diesem Exodus vorzubeugen. So gesehen stand die Regierung dann im Sommer 2015, als 100'000 Flüchtlinge über die Balkanroute nach Ungarn kamen, schon unter einem ganz erheblichen Handlungszwang.

Was wurde in der Berichterstattung ausgeklammert?

Ganz entscheidend an unseren Befunden ist, dass gerade die wichtigen, meinungsführenden Medien auf die bundespolitische Ebene fixiert waren. Sie wollten nur darüber schreiben, was Politiker A zu Politiker B gesagt hat und ob Politiker C oder A Recht hat. Gleichzeitig standen 100'000 Flüchtlinge und Asylbewerber sozusagen vor den Türen. Die Probleme waren in den Kommunen zu lösen und auf Länderebene, aber nicht auf Bundesebene. Was in den Kommunen und auf der Vollzugsebene passierte, dafür haben sich die Journalisten überhaupt nicht interessiert.

Dafür, was in den Kommunen passiert, haben sich die Journalisten überhaupt nicht interessiert.

Verschwiegen die Medien absichtlich die Probleme der Bewältigung der Migrationswelle?

Das ist eine schwierige Frage, weil ich nicht in die Köpfe der Journalisten schauen kann. Wenn wir das zweite Halbjahr 2015 anschauen, als diese Probleme wirklich brannten und sehr viel Missmanagement auf der behördlichen Ebene da waren, finden sie in den journalistischen Medien keine kritischen Rückfragen. Keine Recherchen, keine Reportagen vor Ort, keine Interviews, die den Dingen auf den Grund gehen. Das Thema war viel mehr die freundliche Willkommensgesellschaft und die Frage, ob die Politik in Berlin alles richtig macht. Oder ob sie nicht in Brüssel viel stärker auf diese Tube drücken solle.

Die grossen Medien sind in einem Bewunderungstaumel für das, was in Berlin passiert. Sie verlieren die Regionen völlig aus den Augen.

Woher kommt diese Einseitigkeit?

Die Beschleunigung bei der Informationsproduktion der Onlinemedien führt dazu, dass fortlaufend kolportiert wird. Die Bevölkerung wird nur noch mit Informationspartikeln überschüttet. Es ist keine einordnende Orientierung mehr möglich. Das hängt natürlich mit dem sehr brutalen Medienwettbewerb in der Onlinewelt zusammen. Man muss schneller sein als die Konkurrenz. So dass daraus eine Flüchtigkeit und damit verbundene tendenzielle Desinformation einhergeht. Das zweite Problem ist, dass seit zehn bis fünfzehn Jahren eine Fixierung auf die politische und die wirtschaftliche Elite herrscht. Die grossen Medien sind in einem Bewunderungstaumel für das, was in Berlin passiert. Sie verlieren die Regionen völlig aus den Augen.

Sehen Sie dieselbe oder eine ähnliche Symptomatik bei den Schweizer Medien?

Ich denke, in der Schweiz ist manches anders. Das hängt schon mal damit zusammen, dass die Politik in der Schweiz anders funktioniert. In einem Land, das eine so starke föderalistische Struktur hat, ist diese Fixierung auf eine zentrale Gewalt nicht anzutreffen.

Der Hang zu dem gigantomanischen, auch zu dem latent ideologischen, ist in der Schweiz so nicht anzutreffen.

Hinzu kommt aus meiner Sicht auch, dass in der Schweiz sowohl auf der Seite der Politik wie auf Seiten des Journalismus eine erheblich realistischere, pragmatischere Haltung da ist. Der Hang zu dem gigantomanischen, auch zu dem latent ideologischen, ist in der Schweiz so nicht anzutreffen. Natürlich gibt es trotzdem auch in der Schweiz problematische Seiten in der Berichterstattung. Aber wesentlich gedämpfter als in Deutschland.

Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.

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