Kaum jemand hält es lange aus im Flüchtlingsinternierungslager auf der Insel Nauru, das von Australien betrieben wird. Humanitäre Organisationen bezeichnen es als «Folterlager» und mittlerweile leben einige Flüchtlinge dort schon bis zu fünf Jahre. Oder sie überleben. Unter ihnen sind auch etwa 80 Kinder und Jugendliche.
Die Schweizerin Julia Frei erzählt im Interview, wie sie als Mitarbeiterin der Heilsarmee (Salvation Army) und der Hilfsorganisation «Save the Children» in den Jahren 2013 und 2014 selbst kaum zurechtkam mit dem, was sie in Nauru sehen und erleben musste.
Was war genau Ihre Aufgabe als Helferin im Flüchtlingscamp in Nauru?
Julia Frei: Ich hatte normalerweise ungefähr Zehn-Stunden-Schichten. Es hiess einfach: «Geh ins Camp und unterhalte die Leute.» Mein Titel damals war Supporter Worker – was eigentlich gar nichts hiess. Und das war es auch. Wir waren den ganzen Tag im Camp mit den Geflüchteten zusammen und hatten eigentlich genauso wie sie nichts zu tun. Ich habe mich oft an meine Vorgesetzten gewandt. Oft hiess es dann: «Okay, falls irgendwas Spezielles aufkommen sollte, werden wir uns melden.» Meistens war ich also zehn Stunden im Camp und hatte zehn Stunden nichts zu tun. Manchmal, wenn es mir zu viel wurde, bin ich früher wieder gegangen. Gemerkt hat es nie jemand.
Was haben Ihnen die Geflüchteten erzählt?
Am Anfang, als ich noch neu war, fand ich die Unterhaltungen noch interessant. Später hat man Smalltalk über alles Mögliche geführt. Zum Beispiel über ihre Herkunft und wie viele Geschwister, Kinder oder Familienmitglieder sie haben. Aber das hat sich dann auch ziemlich schnell erschöpft. Dann sass man da und wusste nicht so genau, worüber man sich noch unterhalten sollte.
Wie ging es diesen Leuten psychisch?
Sehr unterschiedlich. Sie haben meistens versucht, so lange wie möglich zu schlafen. Das heisst, wenn man am Morgen vor Ort war, war gar niemand wach. Man wartete bis die Leute aufstanden. Und wenn sie auf waren, sah man auch nur diejenigen, denen es ein bisschen besser ging. Am Anfang waren sie mehr oder weniger okay, aber gelangweilt und desillusioniert, weil sie den ganzen Tag nichts zu tun hatten. Mit der Zeit ging es ihnen viel schlechter.
Und diejenigen, denen es schlechter ging, hat man nicht mehr gesehen. Die sind nicht aus ihren Zimmern gekommen. Sie wurden als «Fälle» bezeichnet. Das sind Leute, die nicht mehr zu den Mahlzeiten erscheinen. Das wurde strikt überwacht, weil viele Menschen sich schon damals quasi aufgegeben hatten und nicht mehr essen wollten oder nur eine Mahlzeit pro Tag gegessen haben. So konnte man wenigstens sicherstellen, dass niemand verhungert.
Hatten Sie Vorschriften, wie sie diese Menschen angehen sollten? Wie Sie mit ihnen sprechen sollten?
Es gab nicht wirklich Vorschriften. Gang und gäbe war aber, dass man die Menschen nicht beim Namen genannt hat, sondern ihre Nummern. Jeder hatte eine Nummer. Die Leute haben angefangen, sich auch untereinander so zu nennen. Das war ziemlich typisch für die Institutionalisierung, die da vor sich ging. Und das wurde auch ganz sicher bewusst so gemacht.
Wie war das für Sie? Wie hat sich diese schwierige Arbeit auf Ihre Psyche, Ihr Verhalten und Befinden abgefärbt?
Unglaublich stark und für mich auch unglaublich schnell. Bevor ich mit der Arbeit anfing, hatte ich bereits Erfahrungen mit Geflüchteten gesammelt und hatte auch in früheren Jobs viele Ausbildungen und Trainings absolviert. Ich habe gelernt, wie man mit sowas umgehen muss. Aber in der Zeit in Nauru habe ich gemerkt, wie schnell das auf einen abfärben kann. Das war auch einer der Gründe, warum ich den Job nicht länger machen konnte.
Ich habe Freunde und Arbeitskollegen, die sich Antidepressiva verschreiben liessen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben.
Nach einer Woche im Camp hab ich mich so gefühlt, als wäre ich eine der Geflüchteten. Ich hatte genauso wenig zu tun wie alle anderen. Das machte mich fast schon depressiv wie die Geflüchteten in dem Camp auch. Es war schockierend für mich, dass man dieses Trauma, diese Depression auch als Mitarbeitende angenommen hat. So ging es nicht nur mir, sondern auch den meisten meiner Kollegen.
Wie hat sich dieser psychische Zustand bei Ihnen geäussert?
Zum einen, indem man morgens am liebsten nicht aufgestanden wäre und sich innerlich alles dagegen gesträubt hat, ins Camp zu gehen. Man hat sich den ganzen Tag unwohl gefühlt, wollte am liebsten einfach gehen. Was ich auch teilweise gemacht habe. Nicht nur, weil es niemand gemerkt hat und weil es einfach nur langweilig war. Sondern auch, weil ich es teilweise gar nicht mehr ausgehalten habe und einfach gehen musste.
Haben Sie jemals Hilfe gesucht für Ihre psychische Verfassung?
Wir hatten damals einen psychologischen Dienst, den wir kontaktieren konnten. Das habe ich auch einmal gemacht. Aber es war ziemlich nutzlos, deshalb habe ich es dann nie mehr gemacht. Sehr geholfen hat mir dafür eine Freundin. Mit ihr konnte ich mich austauschen. Aber ich weiss auch von anderen Kollegen, die mehrmals verzweifelt diesen psychologischen Dienst angerufen haben und keine Antwort und keine Hilfe bekommen haben. Ich habe Freunde und Arbeitskollegen, die sich dann irgendwann Antidepressiva verschreiben liessen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben.
Niemand, der nicht in Nauru gewesen war, konnte wirklich nachvollziehen, wie es einem ging.
Fast alle meine Arbeitskollegen hatten das Gefühl, dass sie nicht mehr in die Gesellschaft passen, nachdem sie zurückgekommen sind. Die anderen Probleme schienen völlig belanglos. Das wirkte sich bei vielen Leuten auch auf die Beziehung zu Familie und Freunden aus. Sie haben dann den Kontakt entweder absichtlich abgebrochen oder die Beziehungen haben darunter gelitten. Weil niemand, der nicht in Nauru gewesen war, wirklich nachvollziehen konnte, wie es einem ging.
Das Belastende ist nicht nur was man gesehen und erlebt hat, sondern die Tatsache, dass Menschen willentlich kaputt gemacht werden. Was wirklich nicht nötig wäre und das ist auch der grosse Unterschied zu jeglichen anderen Flüchtlingslagern auf der Welt. Dass da so vieles vor sich her geht, das einfach unnötig ist.
Sie sind der Meinung diese Flüchtlingslager sind im Prinzip da, um die Leute zu quälen und zu bestrafen, und nicht wie die australische Regierung sagt, ihnen einen Übergang zu schaffen?
Wenn das wirklich der Sinn wäre, könnte man die Bedingungen verbessern. Man könnte den Menschen etwas Sinnvolles zu tun geben, sie zum Beispiel selber kochen lassen. Aber das macht man nicht. Man behandelt sie so, als wären sie Kriminelle. Als wären sie viel zu gefährlich, wenn sie ein Messer in der Hand hätten, um Karotten zu schneiden wie das jeder normale Mensch zu Hause auch macht.
Deshalb bin ich überzeugt, dass man die Leute absichtlich institutionalisiert. Auch die Sicherheitsleute, die den ganzen Tag da sind, geben einem nicht nur als Geflüchteten, sondern sogar als Mitarbeitenden das Gefühl, dass man Tag und Nacht überwacht werden muss, weil man irgendwie gefährlich sein könnte.