Zum Inhalt springen

Frauenrechte in Kosovo «Ich will laut werden für alle anderen Frauen»

Die Schweiz-Kosovarin Luljeta Aliu spricht über ihre Erfahrung mit häuslicher Gewalt – und schreitet zur Tat. Ein Tabu-Bruch in Kosovo.

«Es reicht!», Luljeta Aliu geht auf die Barrikaden. Mitten in Pristina hat sie einen Protest organisiert. Wieder sind in Kosovo zwei Menschen an den Folgen häuslicher Gewalt gestorben: Eine 40-jährige Mutter und ihre 9-jährige Tochter. Erschossen vom Ex-Mann. Eine Stunde vor der Tat hatte die Frau noch die Polizei angerufen – wegen Drohungen ihres Ex-Mannes. Vergeblich.

Gewalt als Privileg der Männer

«Die Gewalt gegen Frauen kann nur in diesem Ausmass geschehen, weil die Institutionen des Staates dies tolerieren.» Diesen Schluss zieht Luljeta Aliu aus ihrer persönlichen Erfahrung. Sie hat selbst jahrelang häusliche Gewalt erlebt.

Bis sie schliesslich zur Polizei ging und ihren Mann anzeigte: «Ich habe dann realisiert, dass ich durch die Prozeduren von Gerichten und Polizei noch mehr Gewalt erlebe.» Ein Verfahren mit quasi umgekehrter Beweislast und ohne Priorität.

Doch Luljeta Aliu entscheidet zu kämpfen: «Ich will laut werden für alle anderen Frauen, die sich nicht trauen zu sagen: Die Gerichte hier sind korrupt.» Sie habe das Glück einer guten Ausbildung und wolle das Rechtsystem herausfordern: «Die Institutionen betrachten diese Gewalt als Privileg der Männer und unternehmen deshalb wenig bis gar nichts dagegen.»

Das Recht des Stärkeren

1990, noch als Kind, kam Luljeta Aliu in die Schweiz, besuchte das Gymnasium und schloss mit Bestnoten ihr Politologie-Studium ab. Eigentlich wollte sie Diplomatin werden, entschied sich dann aber der Liebe zu folgen: Vor zehn Jahren zog sie mit ihrem Mann zurück nach Kosovo – mit der Absicht, der Heimat ihrer Eltern etwas zurückzugeben, etwas zu verändern. Der Beginn eines persönlichen Albtraums.

Ihre Analyse der kosovarischen Gesellschaft nach Gewaltspirale und Scheidung: «Hier gibt es Recht und Gerechtigkeit nur für die Starken. Das sind die Männer, das sind diejenigen, die Geld haben, und das sind die Politiker.» Unterdessen hat Luljeta Aliu ihre eigene NGO gegründet – mit Unterstützung der Schweizer Botschaft: Die Initiative für Gerechtigkeit und Gleichheit (Inject). Der Name ist Programm. Aliu will Kosovo jetzt erst recht verändern.

Luljeta an einer Demo
Legende: Auch auf der Strasse gibt Luljeta allen unterdrückten Frauen im Land eine Stimme. SRF

Partisaninnen der Emanzipation

In der Zeit, als Kosovo zum sozialistischen Jugoslawiens gehörte, war die Gleichberechtigung theoretisch in der Verfassung festgeschrieben: «Frauen haben die gleichen Rechte wie die Männer in allen Bereichen des Staates, der Wirtschaft und des sozialen Lebens.» Zudem garantierte der Staat Frauen und Männern die Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren.

Präsident Josip Broz Tito führte 1945 das Frauenstimmrecht ein – und schickte seine Partisaninnen bis in die entlegensten Dörfer Kosovos, um die Frauen aus den traditionellen Strukturen herauszuholen und in den Arbeitsprozess zu integrieren. Tatsächlich übernahmen viele Frauen in ganz Jugoslawien wichtige Funktionen in Beruf und Partei, waren Ingenieurinnen, Mütter und modebewusste Damen von Welt in einem.

Jovanka Broz, Titos Frau, gibt 1945 ihre Stimme ab.
Legende: Jovanka Broz, Titos Frau, gibt 1945 ihre Stimme ab. Imago

Chauvinismus der Kriegsjahre

Grosse Teile der Bevölkerung in Kosovo oder anderswo, insbesondere auf dem Land, erlebten diese Modernisierungsoffensive von oben allerdings als Kolonisierungsversuch und hielten an den überlieferten Traditionen fest. Die Repression unter Milošević ab 1989 schien dieses Misstrauen zu bestätigen. Die Albaner, egal ob Männer oder Frauen, waren auf einmal wieder Bürger zweiter Klasse.

Der Chauvinismus der Kriegsjahre hat überall in Jugoslawien die alten, patriarchalen Mechanismen wieder erstarken lassen. Wie Geister aus einer vergangenen Zeit. Bis heute. Erst letztes Jahr schreckte die serbische Öffentlichkeit auf, nachdem zwei Frauen kurz nacheinander in geschützten Einrichtungen von ihren Ex-Männern ermordet worden waren – ausgerechnet in staatlichen Einrichtungen.

Schutz der Frauen bei Scheidungen

Luljeta Aliu sieht die Ursache dieser patriarchalen Flashbacks in den politischen Strukturen. In Pristina regiert eine Koalition ehemaliger Kriegskommandanten: «Ein Land kann sich nicht entwickeln, wenn es von Leuten regiert wird, die im Krieg waren. Krieger wissen wie Krieg führen. Für den Frieden brauchen wir andere Leute.» Sie kämpfe deshalb für eine umfassende Veränderung Kosovos.

Für die Frauen hat Luljeta Aliu bereits etwas in Bewegung gebracht: Sie hat eine Revision des Familienrechts initiiert. Damit Frauen bei einer Scheidung besser geschützt sind. Damit sie nicht als Eigentum des Mannes behandelt werden. Die Angst hat Luljeta Aliu abgelegt: «Natürlich erhält man Drohungen. Aber wir müssen aufhören mit Schweigen, sonst können wir nichts verändern.»

Meistgelesene Artikel