Shouzu Sasaki zeigt auf die grossen schwarzen Säcke, die sich zu Tausenden in der Landschaft türmen. Entlang der Strassen, auf Wiesen, auf Reisfeldern – die Säcke sind gefüllt mit kontaminierter Erde. Sie stehen da wie Mahnmale, die die Menschen an die Atomkatastrophe erinnern. Sasaki ist hier aufgewachsen und arbeitet für die Präfektur Fukushima im Bereich Wirtschaftsförderung.
Fünf Minuten Autofahrt von den schwarzen Säcken entfernt steht ein traditionelles japanisches Holzhaus. Es ist Sasakis Elternhaus. Daneben ein kleines Café, doch seit der Atomkatastrophe ist es geschlossen. Damals wurde das ganze Dorf evakuiert. «Wir haben das ganze Dorf verloren.» Nur sieben Familien seien zurückgekommen. «Und von diesen wiederum nur die Eltern – alle sind sie über 60 Jahre alt.»
Auch Shouzo Sasakis Vater lebt noch hier. Er ist über 90, doch weg will er nicht. Junge Menschen kommen keine mehr her. Und dies obwohl die meisten Dörfer und Städte von der Regierung wieder für sicher erklärt worden sind. Denn: Es gibt wenig Perspektiven. Die sozialen Folgen der Atomkatastrophe sind verheerend.
Shouzo Sasaki hat viele Ideen, wie man die Region wiederbeleben könnte. Einen Solarpark hat man bereits angelegt, auch schwebt ihm eine Rinderzucht vor. Auf einigen Feldern wird sogar wieder Reis angepflanzt. Doch Nahrungsmitteln aus der Region haftet ein Stigma an – der Name «Fukushima» wirkt nicht gerade verkaufsfördernd.
Auch deshalb will Sasaki aufklären. Denn die Region würde in den Medien oft schlecht gemacht. Die Menschen hier hätten genug von Negativschlagzeilen. Dazu hat er eine Tour ins Leben gerufen. Sie heisst «Real Fukushima» – das echte Fukushima. Sasaki nimmt Reservationen von interessierten Besuchern aus der ganzen Welt entgegen.
Karin Taira ist Reiseleiterin bei «Real Fukushima». Eine kleine Touristengruppe sitzt gerade bei ihr im Auto. Taira fährt sie rund um das Daiichi Atomkraftwerk – in der Sperrzone, die zum Wohnen noch immer nicht als sicher erklärt wurde. «Wir kriegen weniger radioaktive Dosis ab, als wenn man sich beim Zahnarzt röntgen lässt», sagt die Reiseleiterin.
Als Aktivistin sieht sich Taira nicht: «Wir bringen keine politischen Argumente vor, sind weder für noch gegen Atomenergie. Wir freuen uns, wenn die Teilnehmer beginnen, sich dank der Tour selbst Gedanken zu machen.»
Die Bilder in der Sperrzone sprechen aber für sich: Verlassene Häuser und Wohnungen, Bäume und Sträucher, die über Autos wuchern. Ein Büro mit Computern, Papier und Ordnern auf den Tischen oder eine Modeboutique mit der Kleider-Kollektion von 2011 – alles ist noch da, nur die Menschen fehlen. Auch beim Altersheim, das hastig evakuiert wurde, stehen noch die Tassen auf den Tischen.
Bilder aus der Sperrzone
Zugang zur Sperrzone gibt es nur mit vorheriger Genehmigung – inklusive Passkontrolle. Zum Wohnen ist es hier noch nicht sicher genug. Die Touristengruppe ist denn auch nur kurz in der Sperrzone.
Mehrmals fällt der Name «Netflix» – die Streaming-Plattform hat in ihrer Serie «Dark Tourist», in der ungewöhnliche oder makabere Touristenziele präsentiert werden, auch Fukushima vorgestellt. Und dabei übertrieben und reisserisch berichtet, ärgert sich die Reiseleiterin. Gaffer sind hier nicht erwünscht: «Zeigen Sie Respekt. Sie dürfen Fotos machen, aber bitte keine Selfies mit Peace-Zeichen oder ähnliches.»
Aus dem Archiv: So berichtete die «Tagesschau» über die Katastrophe von Fukushima
Auch sollen die Besucher nicht in die Privatwohnungen hineinfotografieren – zwar stünden die Wohnungen jetzt leer, die Privatsphäre ihrer früheren Bewohner gelte es trotzdem zu respektieren. Karin Taira betreibt nebenbei eine kleine Touristenpension im Städtchen Odaka. Der Ort hatte vor der Katastrophe 13'000 Einwohner.
Odaka wurde inzwischen für sicher erklärt, trotzdem kehrte nur ein Viertel der früheren Bewohner zurück. Auch die Touristenzahl sei noch begrenzt, sagt Taira. Und trotzdem hat sie Hoffnung: «Besonders, weil wir in Tokio 2020 die Olympischen Spiele haben. Bis dann möchten wir den Tourismus in der Region entwickeln – mit Studienreisen für Menschen aus aller Welt.»
Gegen Ende der Tour bietet sich den Besuchern ein herziges und gleichzeitig bedrückendes Bild: Ein junges Wildschwein spaziert gemütlich entlang der Strasse, es lässt sich von den Besuchern nicht aus der Ruhe bringen. Wilde Tiere seien in der Sperrzone inzwischen Alltag, erklärt Taira. Jetzt wo die Menschen weg sind, übernimmt die Natur das Gebiet.