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Gefangene IS-Angehörige Kurden wollen Terrorverdächtige vor eigene Gerichte stellen

Das Wichtigste in Kürze

  • Tausende IS-Verdächtige, auch aus Europa, inklusive der Schweiz, sind in prekären Bedingungen und bei labiler Sicherheitslage in kurdischen Gefängnissen in Syrien inhaftiert.
  • Jetzt ergreifen die Kurden die Initiative und haben die Gründung von eigenen Gerichten gestartet. Das sagt der Kommandant der Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF), General Mazloum Abdi, im Interview mit SRF.
  • Auch nach einer Verurteilung durch ein neu geschaffenes Gericht müssten die IS-Anhänger in ihre Herkunftsstaaten zurückgeschafft werden, fordert General Abdi. Denn würden sie flüchten, seien sie eine grosse Gefahr für die Region und auch für Europa.

Der Ort des Treffens muss geheim bleiben. Denn Mazloum Abdi hat viele Feinde: IS-Terrorzellen, die noch immer in der Region aktiv sind. Von der Türkei unterstützte Truppen, die einige Kilometer weiter westlich ins Kurdengebiet einmarschiert sind. Und dann die Türkei selber, die in ihm einen Anführer einer Terrorgruppe sieht.

Mazloum Abdi hatte mit der PKK gekämpft, heute ist er Oberkommandierender der SDF. Mit Unterstützung der US-geführten Koalition aus der Luft haben die SDF auf dem Boden gegen den IS gekämpft – unter hohem Blutzoll.

Krieg gegen den IS ist nicht vorbei

Ein lokaler freier Mitarbeiter von SRF im Nordosten Syriens hat SDF-Kommandant Abdi kürzlich zu einem Interview getroffen. Dabei macht Abdi klar: Der Krieg gegen den IS sei nicht vorbei.

Neben Anschlägen in der Region versuche der IS auch, gefangene Kämpfer zu befreien, etwa aus dem grössten Gefängnis für Männer in Al Hasakah, wo gemäss Mazloum 4000 IS-Verdächtige inhaftiert sind – darunter auch drei Männer aus der Schweiz.

Mazlum Abdi umgeben von Militär-Angehörigen am Rednerpult.
Legende: Mazloum Abdi (in der Mitte am Rednerpult) 2019 bei einer Rede zur Feier des militärischen Sieges über den Islamischen Staat. Keystone

In den letzten Monaten sei es zu drei Aufständen im Gefängnis gekommen. Weil die Inhaftierten wissen wollten, was aus ihnen werde. «Und sie haben bessere Lebensbedingungen verlangt», sagt Mazloum im Interview.

Spezialeinheiten der SDF, unterstützt von der internationalen Koalition, konnten die Aufstände wieder unterbinden – bisher. Es brodelt weiter, und General Mazloum sagt, dass der IS wohl schon die nächste Befreiungsaktion plane.

Gefahr auch für Europa

Kommen Inhaftierte frei, kann der IS seine Reihen wieder stärken. Und das sei eine Gefahr für die Region und auch für Europa, sagt Mazloum. Denn der IS versuche gemäss Geheimdienstinformationen, Kämpfer nach Europa zu schleusen.

Einige der IS-Verdächtigen sind seit mehreren Jahren inhaftiert, ohne Gerichtsprozess. Initiativen für die Gründung eines internationalen Tribunals scheinen derzeit aussichtslos zu sein. So handeln die Kurden nun selbst: Ersten Inhaftierten soll bald der Prozess gemacht werden, vor einem neuen lokalen Gericht.

Die Politik der Schweiz gegenüber den IS-Verdächtigen

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Ende Februar führten Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung Verhandlungen in der Schweiz mit mehreren europäischen Staaten. Die Kurden verlangten neben der Rückführung der Inhaftierten durch die Herkunftsländer auch Unterstützung für die neuen IS-Gerichte und finanzielle Mittel für die bessere Sicherung der Gefängnisse. Auch mit Schweizer Offiziellen stand die Delegation in direktem Kontakt, wie General Mazloum sagt. Er zeigt sich enttäuscht: «Die Schweiz bleibt eher distanziert. Sie sagt nichts Klares und zeigt keinen Mut.»

Die Haltung der Schweiz sei nach wie vor dieselbe, teilte am Mittwoch ein Sprecher des Aussendepartements auf Anfrage mit. Im März 2019 hatte der Bundesrat beschlossen, dass Schweizer Staatsangehörige, die in syrisch-kurdischen Gefängnissen oder Camps interniert sind, nicht aktiv zurückgeholt werden. Eine ähnliche Haltung haben auch die meisten anderen europäischen Staaten. Eine aktive Rückführung könne nur für Minderjährige geprüft werden, so der Bundesrat. Bemühungen dafür sind aber bisher auch daran gescheitert, dass die Mütter eine Rückführung ihrer Kinder ohne sie ablehnten. Kinder ohne ihre Mütter in die Heimatländer zu bringen, das lehnen auch die kurdischen Behörden ab, wie SDF-General Mazloum Abdi gegenüber SRF sagte.

General Mazloum sagt, sie hätten seit acht Jahren Anti-Terror-Gesetze, aber diese müssten verbessert werden. «Dafür haben wir nun eine Kommission eingesetzt, damit das Gesetz juristisch korrekt ausformuliert wird. Die Kommission steht dafür auch mit internationalen Institutionen in Kontakt.» Wann genau erste Prozesse starten und welche Strafmasse zu erwarten sind, ist noch offen. Den Beschuldigten würde ein Anwalt zur Seite gestellt.

Auch wenn künftig IS-Verdächtige vor Gericht kommen: Der Umgang mit ihnen bleibt langfristig ungeklärt, dessen ist sich SDF-General Mazloum bewusst. Denn nach einem Urteil des neuen Gerichts steht ein Strafvollzug an – oder die Freilassung. In beiden Fällen bleibt für die Kurden klar: Die Herkunftsstaaten seien für ihre Landsleute verantwortlich und müssten sie zurückführen.

Tagesschau, 31.07.2020, 19:30 Uhr

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