«Polizei! Runter auf den Boden!» Polizeikommissar Thomas Böttcher (62) springt mit gezückter Waffe aus dem Einsatzwagen und zwingt drei Männer auf den Boden.
Handschellen klicken. Im Nu bildet sich eine Menschentraube um den Kommissar. Wie aus dem Nichts taucht die Mutter der zwei jüngeren Männer auf, die sich mit einem älteren Mann neben einem teuren cremefarbigen Mercedes geprügelt haben. Sie beschimpft die Polizei: «Handschellen, was soll das?».
Und dann zieht die Mutter dem älteren Mann ein dickes Bündel Euro-Scheine aus der Tasche. «Ich bin noch ein Kind», jammert der Sohn. Sirene heulen, Verstärkung trifft ein.
Meine Waffe ist immer durchgeladen – immer.
Polizeikommissar Böttcher steckt seine Waffe ins Holster und sagt: «Meine Waffe ist immer durchgeladen – immer».
Autos wie in Monaco in Berlins ärmsten Bezirk
«Das ist eine Standardsituation», erklärt Böttcher, und keine ungefährliche. Bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei versammelten sich rasch einmal bis zu achtzig Personen, die gegen die Polizei Partei ergreifen. Deshalb müsse die Polizei die Situation mit allen Mitteln unter Kontrolle behalten, bis Verstärkung eintreffe.
Was der Grund des Streits war, muss auf der Polizeiwache geklärt werden. Der dicke Mercedes und das Bündel Euro-Scheine zeigen aber das Milieu, in dem die drei sich prügelnden Männer verkehren.
Wir sind hier in Berlin-Neukölln, dem Bezirk mit dem höchsten Armutsrisiko, aber die Strasse sagt, dass wir in Monaco sind.
Teure Autos sind ein Indiz für die kriminelle Clanszene: «Wir sind hier in Berlin-Neukölln, dem Bezirk mit dem höchsten Armutsrisiko, aber die Strasse sagt, dass wir in Monaco sind», sagt Martin Hikel, Bezirksbürgermeister von Neukölln, 37 Jahre jung, SPD-Mitglied, zwei Meter gross.
Ein deutschlandweites Problem
Kriminelle arabische Clans sind zu einem deutschlandweiten Problem geworden. Einer der Hotspots ist Berlin-Neukölln, andere Zentren sind das Ruhrgebiet, Bremen und Niedersachsen. Die kriminellen Clans sind international vernetzt. Überraschenderweise besonders nach Skandinavien.
Sie sind im grossen Stil in der organisierten Kriminalität tätig: Geldwäsche, Prostitution, Drogen. Unlängst wurde ein Clanmitglied zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Es ging um eine Deliktsumme in Millionenhöhe, die ihm jeden Tag Gefängnis mit 3800 Euro versüsst hätte – wäre das Geld nicht von der Polizei sichergestellt worden. Zum Vergleich: Wenn Daimler-Chef Dieter Zetsche im Mai in Pension geht, erhält er pro Tag eine Rekordrente von 4250 Euro.
In Hagen in Nordrhein-Westfalen konnte die Polizei eine Clanfamilie überführen, die mit manipulierten Spielautomaten zehn Millionen Euro Gewinn machten. Und in Berlin beschlagnahmten die Behörden im letzten Jahr 78 Immobilien eines einzigen Clans im Wert von zehn Millionen Euro.
Geschäftsmodell Flüchtlingskrise
Als Berlin während der Flüchtlingskrise 2015/16 händeringend nach Unterkünften suchte, machten kriminelle Clans damit das grosse Geschäft. Pro Flüchtling und Tag zahlte Berlin 25 Euro, pro Immobilie kamen so ohne weiteres 30'000 Euro pro Monat zusammen.
Manchmal waren die Unterkünfte nur scheinbar mit Flüchtlingen belegt. Wie dreist die kriminellen Clans operieren, zeigt die Tatsache, dass sie selbst die Matratzen und das Bettzeug für die Unterkünfte stahlen.
Kriminelle Clans sind Kult
Anders als in der organisierten Kriminalität üblich, operieren kriminelle, arabische Clans nicht im Geheimen, sondern ungeniert offen. An einem sonnigen Septembersonntag wurde in Berlin an einem beliebten Ausflugsort ein Clanmitglied auf offener Strasse vor den Augen spazierender Familien mit Kindern erschossen. Zum Begräbnis erschienen 2000 Trauergäste, darunter über hundert polizeibekannte kriminelle arabische Clanmitglieder. Das sind Szenen, die an Al Capone und das Chicago der 1920er Jahre erinnern.
In Berlin wurde 2017 eine hundert Kilogramm schwere Goldmünze aus dem weltberühmten Bode-Museum gestohlen. Die Einbrecher drangen – unvorstellbar im 21. Jahrhundert – durch ein offenes Fenster ins Museum ein, transportierten die Goldmünze zunächst auf einem Rollbrett zum Fenster, kletterten über den nahen S-Bahn-Damm aus dem Museum und brachten dann die hundert Kilogramm schwere Münze in einer Schubkarre zum Fluchtauto. Angeklagt sind drei Clanmitglieder.
Andere liessen am helllichten Tag eine 12 Kilogramm schwere Seife im Wert von 1200 Euro aus einem Geschäft der Kosmetik-Kette «Lush» mitgehen, obwohl sie wissen mussten, dass das Geschäft videoüberwacht war. Es sind tolldreiste bis dumme Aktionen, aber im Gerichtssaal werden die meist jugendlichen Täter von den besten Anwälten verteidigt. Sie tun es, weil sie es können, und zeigen, wer Herr auf der Strasse ist.
Manche Clanchefs schmücken sich mit ihren Beziehungen zu Rappern, die Kultserie «4 Blocks», welche die Clanszene ausgezeichnet darstellt, geniesst auch in der Szene Kultstatus. Und Jugendliche – selbst wenn sie nicht zur kriminellen Szene gehören – verspotten die Berliner Polizei, die in «4 Blocks» anfänglich kein gutes Bild hinterlässt: «Wir machen es wie in 4 Blocks», spotteten die Kids.
Von armen Flüchtlingen zu reichen Verbrechern
«Man kann Vieles erklären, aber muss es gleichzeitig nicht entschuldigen», sagt Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel.
Ihr habt uns reingelassen und dann im Stich gelassen.
Die Erklärung lautet: Die arabischen Grossfamilien kamen in den 1970er und 1980er Jahren aus dem Bürgerkriegsland Libanon als Flüchtlinge nach Deutschland. Ursprünglich stammten die arabischen oder kurdischen Grossfamilien aus Syrien, dem Südosten der Türkei oder Palästina. «Ihr habt uns reingelassen und dann im Stich gelassen», klagt ein Barbesitzer in Berlin-Neukölln.
Zwar ist auch er für die Behörden kein unbeschriebenes Blatt, aber er hat Recht: In den 1980er Jahren wurde in Deutschland das Asylrecht für Flüchtlinge verschärft. Sie durften während zehn Jahren nicht arbeiten, manche haben seit drei Generationen keinen deutschen Pass, ja nicht einmal einen gesicherten Aufenthaltsstatus und müssen im Prinzip regelmässig mit ihrer Abschiebung rechnen.
Ihr wart arm, aber jetzt seid ihr alles andere als arm, jetzt seid ihr Verbrecher und zwar reiche Verbrecher.
Die Schulpflicht für Flüchtlingskinder wurde abgeschafft. Heute unvorstellbar. Der Gang in die Kriminalität lässt sich erklären, wenn auch nicht entschuldigen. «Sie sagen immer wieder, wir sind die Armen», sagt Martin Hikel: «Ich sage, ihr wart arm, aber jetzt seid ihr alles andere als arm, jetzt seid ihr Verbrecher und zwar reiche Verbrecher.»
Nachdem die Öffentlichkeit und die Polizei drei Jahrzehnte lang wegschauten, hat nun ein Kurswechsel stattgefunden. Mit einer Politik der «Nulltoleranz» und der «tausend Nadelstiche», sollen die kriminellen Clans entnervt werden. Es gibt fast wöchentlich Kontrollen von Spielautomatencafés und Shishabars, beliebte Treffpunkte krimineller Clans.
Lieber die Rolex am Arm als ein Job als Busfahrer
Am erfolgversprechendsten ist aber die Taktik des «follow the money»: Nach einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 2017 können Vermögen eingezogen werden, wenn kein Zweifel besteht, dass sie «aus kriminellen Handlungen herrührten», auch wenn die dahinterstehende Straftat nicht nachgewiesen wurde. Das ermöglichte die erwähnte Beschlagnahmung von 78 Immobilien einer einzigen Clanfamilie im Wert von zehn Millionen Euro in Berlin.
Mit der Prävention aber tun sich die Behörden noch schwer. Zum einen sind die völlig abgeschotteten Grossfamilien – nicht alle sind kriminell, auch das muss betont werden – schwer zu durchleuchten. Am ehesten seien Frauen und Jugendliche für Aussteigerprogramme empfänglich, sagt der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU).
Aber auch er hat noch kein überzeugendes Rezept. Denn: «Wenn Sie einem Jugendlichen mit einer Rolex am Arm sagen, ich helfe Dir beim Aussteigen aus der Kriminalität, ich kann Dir eine Ausbildung als Busfahrer vermitteln, dann schaut der auf die Rolex und sagt: ich weiss nicht, ob ich heute dazu Lust habe.»