Viele Leute in London erleben zurzeit schlaflose Nächte. Besonders jene, die Matt Hancock während der Pandemie eine Text-Nachricht geschickt haben. 100'000 Whatsapp-Nachrichten des damaligen Gesundheitsministers wurden an die Tageszeitung «Daily Telegraph» weitergereicht. Unter dem süffigen Titel «Lockdown-Files» wird die private Krisenkorrespondenz nun häppchenweise veröffentlicht.
Das britische Publikum erfährt zum Beispiel, dass Hancock alle Lehrkräfte in einer Nachricht an den Erziehungsminister mit einem üblen Schimpfwort aus der Fäkalsprache verunglimpfte. Dieser stimmte ihm zu und nannte die Lehrer einen Haufen von faulen Säcken. Auch zog die Regierung unter Boris Johnson offenbar in Betracht, Katzen zu töten – weil man nicht wusste, ob auch Haustiere das Virus übertragen können.
Wurden Altersheimen Tests vorenthalten?
Die Kommunikationsfragmente sind teilweise bizarr, werfen aber durchaus ernsthafte Fragen auf: Hat der damalige Gesundheitsminister während der Pandemie aus politischem Kalkül Altersheimbewohnerinnen und -bewohner bewusst nicht testen lassen?
Dies jedenfalls suggeriert der «Daily Telegraph»: Um die Testkapazität in Spitälern und Arztpraxen zu erhöhen, habe man die Tests der betagten Bevölkerung vorenthalten. Ist dies allenfalls eine Erklärung, weshalb in den ersten drei Monaten der Pandemie in britischen Altersheimen mehr als 20'000 Menschen verstorben sind?
Hancock kein unbeschriebenes Blatt
Die veröffentlichten Textnachrichten weisen zugleich darauf hin, dass während der Pandemie bei weitem nicht alle Entscheide der britischen Regierung wissenschaftlich begründet oder zweckmässig waren. Der frühere Gesundheitsminister war jedoch bereits eine kontroverse Figur, bevor die britische Öffentlichkeit den Inhalt seines Mobil-Telefons kannte.
Während die Bevölkerung sozial zwangsdistanziert im Lockdown harrte, wurde er während der Pandemie in seinem Ministerium in inniger Umarmung mit seiner damaligen Beraterin erwischt. Vor einigen Wochen machte er als Teilnehmer eines Dschungelcamps Schlagzeilen, wie er mit einem Frosch auf dem Kopf in einem Tümpel sitzt.
Doch auch die Quelle der Textnachrichten ist nicht über alle Zweifel erhaben. Diese sind zwar offensichtlich echt. Eine Journalistin hatte sie von Hancock zum Verfassen einer Biographie erhalten. Trotz Schweigepflicht reichte sie diese «im nationalen Interesse» an den «Daily Telegraph» weiter.
Warten auf die grosse Untersuchung
Die Nachrichten bieten einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen einer Jahrhundertkrise und werden in diesen Tagen noch vielen Leuten in Westminster eine unruhige Zeit bereiten. Ohne Kontext befriedigen sie aber in erster Linie die öffentliche Neugier.
Die Pandemie hat allein in Grossbritannien mehr als 200'000 Menschen das Leben gekostet. Deren Angehörige wünschen sich mehr als ein Konvolut von Textnachrichten. Von wirklich nationalem Interesse werden deshalb die Ergebnisse einer parlamentarischen Untersuchung sein, die Ende Jahr erwartet werden.