Zum Inhalt springen

Geliebter Massenmörder Stalin Eine Mauer der Trauer – und eine des Schweigens

Präsident Wladimir Putin will Russland mit der Sowjetzeit versöhnen. Die Sehnsucht nach imperialer Grösse lebt weiter – und mit ihr die Bewunderung für Diktator Stalin.

Vor einer Woche weihte Wladimir Putin, gemeinsam mit dem Patriarchen Kyrill, die «Mauer der Trauer» in Moskau ein. An einer zehnspurigen, vielbefahrenen Ringstrasse blicken nun trostlose Gestalten auf die Moskowiten herunter. Sie sollen an die Opfer von Stalins Terror erinnern.

In den 1930er-Jahren hatte der Diktator ein System der Paranoia geschaffen, das bald das ganze Sowjetreich überspannte. Allein 1937-38 starben – nach vorsichtigen Schätzungen – 700'000 Menschen.

«Diese fürchterliche Vergangenheit darf nicht aus unserem nationalen Gedächtnis gelöscht werden», sagte Putin an der Einweihungszeremonie. Nur eine unzweideutige und klare Beurteilung der Unterdrückung unter Stalin könne verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.

Seit 18 Jahren dominiert Putin die politische Landschaft Russlands. Noch nie hat sich der Präsident derart deutlich von den dunklen Jahren der Sowjet-Herrschaft distanziert: In der Vergangenheit bezeichnete er Stalin als «komplexe Figur»; der Versuch, ihn zu dämonisieren, sei eine Verschwörung gegen Russland.

Eine heuchlerische Inszenierung?

David Nauer

Box aufklappen Box zuklappen

David Nauer ist Korrespondent von Radio SRF in Russland. Von 2006 bis 2009 hatte Nauer für den «Tages-Anzeiger» aus Moskau berichtet, anschliessend aus Berlin.

Die Erinnerung an den Schrecken des stalinistischen Terrors untermischte Putin mit dem Aufruf an die Einheit des russischen Volkes: «Wir dürfen die Gesellschaft nie wieder an den steilen Abgrund der Spaltung drängen.»

In der russischen Öffentlichkeit sei die Einweihung des Denkmals «grundsätzlich positiv» aufgenommen worden, bilanziert SRF-Korrespondent David Nauer. Schliesslich entsprach sie einer Forderung von Menschenrechtlern.

Aus oppositionellen Kreisen gab es aber auch Kritik: «Viele sagten, es sei heuchlerisch, dass Putin, der selber beim sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet hat, jetzt ein Denkmal für die Opfer eben jenes Geheimdienstes eröffnet.»

Eine Gruppe von Dissidenten aus der Sowjet-Zeit unterstellte Putin in einem offenen Brief Zynismus:

Für uns ist es unmöglich, an den Gedenkveranstaltungen teilzunehmen. Die Autoritäten entschuldigen sich bei den Opfern des Sowjetregimes und führen ihre eigene Repression weiter.
Autor: Ehemalige Dissidenten

Zur Zweideutigkeit des Gedenkens gehört für Nauer, dass die Schrifttafel am Denkmal «recht unbestimmt erklärt, worum es geht. Die Täter werden nirgends genannt.» Für Nauer versinnbildlicht diese Auslassung, dass es in Russland nie eine echte Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen gegeben hat:

Die Täter wurden nie gesamtgesellschaftlich benannt und schon gar nicht bestraft. Einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, wie in anderen ehemals kommunistischen Ländern, hat es nie gegeben.
Autor: David Nauer SRF-Korrespondent in Moskau

Dies wird bis in den russischen Sicherheitsapparat hinein spürbar. Der Inlandgeheimdienst FSB sieht sich noch heute als direkte Nachfolgeorganisation des KGB und des berüchtigten NKWD, der Stalins Vernichtungsmaschinerie bediente. «Noch schlimmer ist aus meiner Sicht, dass es eine Tendenz gibt, diese Untaten von damals zu rechtfertigen», meint Nauer.

Der SRF-Korrespondent erinnert sich an den Besuch einer Ausstellung zur Stalin-Ära in Moskau. Ihr (inoffizielles) Motto: Die Sowjetunion war in der 30er-Jahren von Feinden umzingelt. Deswegen musste Stalin im Innern mit harter Hand regieren. «Die Opfer der Repression werden damit quasi zum Kollateralschaden erklärt», schliesst Nauer.

«Väterchen Stalin» lebt weiter

Dass diese ambivalente Sicht auf die stalinistischen Säuberungen nicht den Historikern vorbehalten ist, zeigen Umfragen in der Bevölkerung: Zu den beliebtesten russischen Persönlichkeiten gehört regelmässig «Väterchen Stalin», wie ihn die Sowjetpropaganda zu Lebzeiten inszenierte.

Die bedeutendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte

1. Josef Stalin
2. Wladimir Putin und Alexander Puschkin (Dichter)
3. Wladimir Iljitsch Lenin
4. Zar Peter der Grosse
5. Juri Gagarin (Kosmonaut)
14. Napoleon Bonaparte (erster Nicht-Russe)
Umfrage des unabhängigen Instituts Lewada (Juni 2017)

Zur Glorifizierung des Diktators trägt bis heute bei, dass Stalin die Sowjetunion durch den «Grossen Vaterländischen Krieg» gegen Hitlers Nazi-Deutschland führte. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg sei unter Putin zu «dem identitätsstiftenden Ereignis für Russland» geworden:

Jedes Jahr wird dieser Sieg mit noch mehr Pomp gefeiert, er wird fast zu etwas Sakralem erhoben, worüber man nicht mehr kritisch nachdenken darf. Dadurch wird auch Stalin zu einer Lichtgestalt: Er machte das Land zur Weltmacht.
Autor: David Nauer SRF-Korrespondent in Moskau

Keine Geschichtsvergessenheit, aber Stolz

Dieses Verdienst mache die Repressionen unter Stalin zwar nicht vergessen. Doch die Tatsache, dass die Sowjetunion unter ihm zur Weltmacht aufstieg, überstrahle für viele Russen die dunklen Kapitel seiner Herrschaft: «Sie assoziieren den Diktator mit militärischer Macht und imperialer Grösse.»

Auch der russische Staat pflegt die Erinnerung an Stalin und das Sowjetimperium. In vielen Regionen Russlands sind in den letzten Jahren Monumente zu Ehren Stalins entstanden; die Geschichtsbücher in den Schulen inszenieren ihn zuallererst als starken Führer.

Das Gedenken an die bolschewistische Revolution von 1917, die sich morgen zum 100. Mal jährt, fällt dagegen verhaltener aus. Der Kreml organisiert keine offiziellen Gedenkfeiern; gegenüber Menschenrechtsaktivisten drückte Putin kürzlich die Hoffnung aus, das Jubiläum würde einen «Schlussstrich» unter die turbulenten Ereignisse von damals ziehen:

Wir müssen Russlands Geschichte mit grossen Siegen und tragischen Seiten akzeptieren.
Autor: Wladimir Putin Präsident Russlands

Meistgelesene Artikel