Vor einer Woche trat Alain Berset sein Amt als Generalsekretär des Europarates an. Nur Tage später steht er bereits auf der Weltbühne und vertritt seine Organisation während der UNO-Gipfelwoche in New York. Er will Flagge zeigen für den Europarat, der oft im Schatten der Schlagzeilen steht.
SRF News: In den letzten Tagen betonte der UNO-Generalsekretär, die internationalen Institutionen seien völlig überfordert. Die Strukturen seien den Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Gilt das auch für den Europarat?
Alain Berset: Es ist wirklich eine herausfordernde Zeit. Es gibt viele Krisen und Probleme in Europa. Und wir haben den Aggressionskrieg von Russland gegen die Ukraine. Doch der Europarat hat Schritte eingeleitet in den letzten Jahren, die mehr Effizient ermöglichen. Dadurch ist uns eine rasche und starke Unterstützung der Ukraine gelungen. Ich kann mir vorstellen, dass es bei der UNO, wo alle Staaten dabei sind, komplizierter ist.
Sie sind als eine Ihrer ersten Amtshandlungen nach New York zur UNO-Gipfelwoche gereist. Kann der Europarat von der UNO lernen oder umgekehrt die UNO vom Europarat?
Wir müssen zusammenarbeiten, das ist klar und das passiert auch. Ich meine damit vor allem auch die Zusammenarbeit mit Genf. Wir sollten nie vergessen, dass wir in Genf eine unglaublich starke Position in der multilateralen Welt haben. Wir können viel voneinander lernen, obschon manche Probleme nicht vergleichbar sind. Für den Europarat geht es darum: Was können wir tun, um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu fördern und weiterzuentwickeln?
Doch gerade diese zentralen Werte des Europarates – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte – sind unter Druck, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt.
Das sieht man seit längerem, im Grunde seit gut zehn Jahren. Die Bewegung geht nicht in die richtige Richtung. Was können wir tun, um diesen Trend umzukehren? Wir brauchen wieder eine positive Bewegung, wie wir sie nach dem Ende Kalten Krieges bis etwa 2006 oder 2008 erlebt haben.
Es braucht funktionierende Demokratien und Rechtsstaatlichkeit. Das schafft Stabilität.
Beunruhigt es Sie, dass in vielen Ländern Parteien Aufwind haben, die nicht auf diese Werte setzen und eher Egoismus und Protektionismus hochhalten, also primär rechts- oder linkspopulistische Parteien?
Ja, klar. Vielerorts herrscht Frustration, weil sich die Welt vielleicht zu schnell dreht für Teile der Bevölkerung. Diese Leute sind nicht mehr offen für Neues, sie ziehen sich zurück. Dagegen gilt es, etwas zu unternehmen, aber inhaltlich. Es reicht nicht zu sagen, diese Leute haben schlecht gewählt, schlecht abgestimmt. Wir brauchen Stabilität und wir brauchen Perspektiven. Das wollen die Leute für sich und ihre Kinder. Dafür braucht es funktionierende Demokratien und Rechtsstaatlichkeit. Das schafft Stabilität.
Es sind nicht zuletzt junge Menschen, die populistische Parteien wählen. Was können Sie als Generalsekretär des Europarates tun?
Wir brauchen jetzt einen Aktionsplan für die Unterstützung und Weiterentwicklung der Demokratie. Mit einem starken Akzent auf der jüngeren Generation. Was bedeutet das? Es bedeutet vor allem Ausbildung, Weiterbildung. Es bedeutet auch die Stärkung der Meinungsfreiheit und -vielfalt.
Sie haben gleich nach Ihrer Wahl gesagt, Sie wollten dem Europarat mehr Sichtbarkeit geben. Ich nehme an, Ihr Besuch während der UNO-Gipfelwoche dient genau dazu. Wie können Sie hier überzeugen?
Als Bundesrat und Bundespräsident konnte ich ein Netzwerk aufbauen. Es dient mir nun auch in meiner neuen Funktion. Das ist ein Punkt. Der zweite Punkt ist der Inhalt. Was will man inhaltlich entwickeln? Ein konkretes Beispiel: Wie unterstützt der Europarat die Ukraine? Und der dritte Punkt ist, früh neue Herausforderungen zu erkennen und anzugehen.
Die weltpolitische Lage momentan ist bedrohlich. Es herrscht schon eine gefährliche Situation.
Der Europarat hat gerade eben die erste Konvention über künstliche Intelligenz lanciert. Sie wird jetzt von den Mitgliedsländern unterzeichnet. Inhaltlich geht es darum, Ja zu sagen zur künstlichen Intelligenz. Sie ist eine Realität, mit der man leben muss und auch leben will. Sie hat viele positive Seiten, bringt aber zugleich Risiken mit sich für die Demokratie und für die Menschenrechte.
Wie ist die Stimmung auf der internationalen Bühne im Moment? Von aussen betrachtet, entsteht der Eindruck von starker Missstimmung. Man traut einander und den Institutionen nicht mehr über den Weg.
Ich finde, es ist ein bisschen chaotisch. Nicht depressiv, aber chaotisch. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrats eine Aggression lanciert auf ein Mitglied des Europarates und der UNO. Das hat viel Unsicherheit ausgelöst und Probleme auf der internationalen Bühne geschaffen.
Nötig wäre jetzt eine Gegenbewegung. Es bräuchte wieder eine positive Stimmung. Bloss: Wie schaffen wir das? Es bräuchte wieder mehr Sicherheit und Stabilität in der Welt. Die weltpolitische Lage momentan ist bedrohlich. Es herrscht schon eine gefährliche Situation. Dabei ist klar, dass für 99 Prozent aller Länder der Welt Stabilität, klare internationale Regeln und Fairness wichtig sind – auch für die Schweiz. Menschen und Regierungen wollen wissen, was gilt und was nicht gilt. Entwicklung ist schwierig in einer unsicheren Welt. In einer Welt, wo jederzeit alles möglich und nichts vorhersehbar ist.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.