Zum Inhalt springen

Gerichtshof für Menschenrechte Eine Irin ist jetzt das Gewissen Europas

Kein anderes Gericht hat so viel Einfluss auf das Leben so vieler Menschen wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dessen Vorsitz übernimmt zum ersten Mal eine Frau: die Irin Siofra O'Leary.

Ärztin oder Pflegerin, wie zunächst angedacht, wurde Siofra O'Leary zwar nicht. «Aber: Etwas, das mit Menschen zu tun hat, musste es sein», erzählte sie neulich in einem Video-Chat.

Sie wurde Rechtsprofessorin, später Richterin. Jetzt sogar die höchste Europas: «Ich liebe das Recht», sagt die 54-jährige Irin: «Es hat direkt mit Menschen zu tun – das Verfassungsrecht, die Menschenrechte, das Familien- oder das Arbeitsrecht.» In ihrem Amt hat sie genau mit jenen Rechtsbereichen zu tun, die den Alltag von Menschen stark beeinflussen.

Strassburger Urteile haben eine grosse Wirkung

Box aufklappen Box zuklappen

Anfang Oktober etwa zwang eines die Schweiz, die Diskriminierung von Männern aufzuheben bei den Witwer- und Witwenrenten. Wegen eines anderen musste der Kanton Genf ein umfassendes Bettelverbot für nichtig erklären.

Im Fall von O'Learys Heimat Irland verlangten EGMR-Urteile, Homosexualität und den Schwangerschaftsabbruch zu entkriminalisieren.

Das Bedürfnis nach Urteilen des EGMR ist enorm. Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern aus den Mitgliedstaaten des Europarats, darunter die Schweiz, gelangen an den Strassburger Gerichtshof. Siofra O'Leary ist es egal, wenn ihr Name dereinst vergessen ist: «Doch wenn die Urteile, an denen ich mitgewirkt habe, weiterhin zitiert werden, dann habe ich meine Arbeit ordentlich gemacht.»

Raison d'être des EGMR ist, zu verhindern, dass sich die Schrecken der Vergangenheit wiederholen. Deshalb kann sich seit dem Zweiten Weltkrieg an Strassburg wenden, wer sich in seinen Grund- und Freiheitsrechten verletzt sieht: Die Themen reichen von Folter und Misshandlung über Medienfreiheit und Wahlbetrug bis zur Unabhängigkeit der Justiz oder Minderheitenrechten – da und auf vielen weiteren Feldern kann der Gerichtshof Urteile der obersten nationalen Gerichte korrigieren.

Besonders häufig passiert das im Fall der Türkei, von Aserbaidschan, Rumänien oder der Ukraine – und es geschah besonders im Fall von Russland, bis zu dessen Rauswurf aus dem Europarat nach der Invasion in die Ukraine.

Bis zu sieben Jahre warten für ein Urteil

Weil sich derart viele Menschen an das Gericht in Strassburg wenden, ist es notorisch überlastet. Unter dem nun abtretenden Gerichtspräsidenten, dem Isländer Robert Ragnar Spano, hat man sich stärker auf Grundsatzurteile konzentriert. «So liess sich die Pendenzenliste halbieren, sagt EGMR-Vizekanzler Abel Campos: «Doch sie umfasst immer noch 65'000 hängige Fälle. Bis zu einem Urteil vergehen oft bis zu sieben Jahre. Zu lange.»

Briten drohen seit Jahren mit Austritt

Das zweite grosse Problem: Angriffe auf den EGMR werden häufiger und härter. In manchen Ländern wird das oberste Gericht als übergriffig empfunden.

Es mische sich in Dinge ein, die man Einzelstaaten überlassen solle, selbst wenn sie rechtsstaatlich umstritten sind. Die regierenden britischen Konservativen etwa drohen seit Jahren gar mit einem Austritt aus dem Europarat und der Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Erst recht kritisch sind Regierungen, die ohnehin Mühe haben mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, vor allem die türkische, aber auch die polnische oder ungarische.

Klein beigeben wird die neue Gerichtspräsidentin Siofra O'Leary sicherlich nicht: «Demokratie ist für den EGMR ein fundamentaler Bestandteil der öffentlichen Ordnung in Europa.» Nur Länder, die demokratisch seien und demokratisch bleiben wollten, hätten ihren Platz im Europarat. Die Tragödie in der Ukraine erinnere daran, wie wichtig die Werte und Prinzipien seien, für welche unsere Vorfahren gekämpft hätten. Wie wichtig, aber zugleich: wie verletzlich.

Echo der Zeit, 31.10.2022, 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel