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«Gotteslästerung» in Russland Heiliger Zorn gegen «Matilda»

Der künftige Zar im Liebesnest mit einer polnischen Ballerina: Radikale Gläubige laufen Sturm gegen eine Kino-Romanze.

«Sie sind sich bewusst, das wird unsere einzige Nacht bleiben», flüstert der russische Thronfolger und spätere Zar Nikolai der Zweite. «Ja, aber Sie werden mich nie vergessen», haucht die polnische Ballerina Matilda Kschessinskaja. Wer jetzt schon die Taschentücher hervorkramt, sollte sie schleunigst wieder einpacken.

Zumindest, wenn er oder sie in Russland lebt. Denn dort laufen orthodoxe Fundamentalisten und Monarchisten derzeit gegen den Streifen «Matilda» Sturm. Die opulente Kino-Romanze von Regisseur Alexej Utschitel beleidigt ihre religiösen und patriotischen Gefühle zutiefst.

Der 1918 ermordete Zar wurde von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Eine Schmonzette um einen treulosen Thronfolger, der sich mit einer polnischen Tänzerin vergnügt, ist für die Aktivisten ein Sakrileg: «Nikolai gilt als Märtyrer, weil er nach der Oktoberrevolution von den Kommunisten erschossen wurde», sagt SRF-Korrespondent David Nauer.

Historisch belegter Ausrutscher

Die Affäre ist zwar historisch verbürgt. Das hindert die Aktivisten aber nicht daran, den offiziellen Filmstart von Matilda am 26. Oktober um jeden Preis zu verhindern: Neben Drohungen gab es bereits Brandanschläge auf Kinos. Obwohl bislang nur der Trailer des Films bekannt ist.

Der russische Staat hat eine gewisse Beisshemmung, gegen diese Leute vorzugehen.
Autor: David Nauer SRF-Korrespondent in Moskau

Wer konkret hinter den Aktionen steht, sei nicht bekannt: «Aber es gibt radikale orthodoxe Organisationen, die ganz offen und aggressiv Stimmung gegen den Film machen», berichtet Nauer. Einer von ihnen ist der Chef der Vereinigung «Christlicher Staat – Heiliges Russland».

Er liess verlauten, er selber werde nichts anzünden. Ein Aufruf zur Mässigung war das aber nicht. Er kenne Leute, so der Aktivisten-Führer weiter, die derart in ihren religiösen Gefühlen verletzt seien, dass sie zum Molotow-Cocktail greifen würden: «Sie sind ja quasi dazu gezwungen», schob er nach.

Die Drohungen zeigen Wirkung

David Nauer

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David Nauer ist Korrespondent von Radio SRF in Russland. Von 2006 bis 2009 hatte Nauer für den «Tages-Anzeiger» aus Moskau berichtet, anschliessend aus Berlin.

Zwei grosse Kinoketten haben sich dem Druck bereits gefügt und wollen den Film nicht zeigen. Ein beachtlicher Erfolg für die fundamentalistischen Gruppierungen, die kaum mehr als ein paar Tausend Mitglieder haben. «Sie haben aber einflussreiche Verbündete», sagt Nauer.

Eine Abgeordnete des russischen Parlamentes, der Duma, habe sich etwa an die vorderste Front der Aktivisten gestellt. «Auch zahlreiche Würdenträger der orthodoxen Kirche unterstützen die Bewegung. Vor allem aber sind die radikalen Gläubigen sehr gut organisiert – und zu allem entschlossen», so der SRF-Korrespondent in Moskau.

Weniger entschlossen scheint das potenzielle Publikum des Mainstream-Films. Es störe sich zwar nicht im Geringsten an dem Film, so Nauer. Die Bereitschaft, sich dem Furor der Fundamentalisten entgegenzusetzen, sei aber gering.

Die Polizei schaut zu

Erstaunt zeigten sich Beobachter auch, dass der mächtige russische Sicherheitsapparat die Attacken und Drohungen bislang schulterzuckend hinnahm. «Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die offizielle Politik in Russland in den letzten Jahren selber sehr stark auf Glaube, Kirchen und Patriotismus gesetzt hat», sagt Nauer.

Putin mit dem Patriarchen Kirill, 30. Juli in St. Petersburg
Legende: Putin mit dem Patriarchen Kirill: Zwischen der Kirche und dem Kreml herrschen enge Bande. Reuters

Die wüsten Attacken erschienen denn auch als Art Fortsetzung dieser politischen Entwicklung – wenn auch in radikalerer Form: «Der russische Staat hat eine gewisse Beisshemmung, gegen diese Leute vorzugehen.»

Immerhin: Der russische Kulturminister Wladimir Medinski hat sich nach langem Schweigen energisch für «Matilda» eingesetzt. Die Proteste von Monarchisten und konservativen Christen diskreditierten die staatliche Kulturpolitik wie die Kirche, sagte er am Mittwoch in Moskau.

Nationalpatriotisches steht hoch im Kurs

«Matilda» ist allerdings nicht der erste kulturpolitische Sündenfall in Russland. 2010 etwa wurde der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, der sich an der Sowjetunion und dem neuen Russland abarbeitet, wegen «Russophobie» angezeigt – für dieses Zitat in seiner «Enzyklopädie der russischen Seele»:

Russen muss man mit dem Stock prügeln. Russen muss man erschiessen. Russen muss man an die Wand klatschen. Sonst hören sie auf, Russen zu sein.

Jerofejew hatte seine liebe Not zu erklären, dass nicht er so denkt, sondern die erfundene Hauptfigur des Buches. Allein mit derartigen Problemen ist der bald 70-Jährige nicht: Der Theatermacher Kirill Serebrennikow etwa steht wegen Betrugs unter Hausarrest. «Eine Kriegserklärung an die liberale Intelligenz», polterte Jerofejew.

Mit der Stalin-Diktatur seiner Kinderjahre will der Schrifsteller die Repression im modernen Russland trotzdem nicht vergleichen. «Das Leben unterscheidet sich vom Leben in der Sowjetunion», sagt Jerofejew. Er selbst gehört in der Moskauer Literaturszene zu den wenigen, die mit den Machthabern wie mit den Dissidenten auskommen.

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