Wenn Kisha Supernant mit ihrem Bodenradar arbeitet, zeigt ihr Bildschirm manchmal spezielle Strukturen im Untergrund. Dann weiss die Archäologin: Ich gehe wohl gerade über Gräber von Kindern. Das sei herzzerreissend, sagt Supernant, selbst eine indigene Mutter: «Die Familien erfuhren vielfach nie, wo ihr Kind begraben ist – oder nicht einmal, dass ihr Kind gestorben ist.» Diese Suche nach unmarkierten Gräbern sei für die die indigenen Gemeinschaften aber auch für sie selbst emotional extrem schwierig, sagt Supernant, die an der Universität von Alberta forscht.
Ende Mai hat eine First Nation, eine indigene Gemeinschaft ganz im Westen, in British Columbia Hinweise auf 215 Gräber entdeckt. Das erwies sich als eine Art Initialzündung: Andere Funde folgten, weitere Gemeinschaften machten sich auf die Suche. Seither häufen sich bei Supernant die Anfragen. Und es gibt viel zu tun: Mindestens 150 ehemalige Schulstandorte in ganz Kanada müssten nach Gräbern abgesucht werden.
Es drohe ein Engpass, sagt Supernant: «Es gibt zwar in Kanada Fachleute, die etwa mit einem Bodenradar umgehen können. Aber nur wenige verstehen sich darauf, unmarkierte Gräber zu finden – und mit indigenen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten.» Rund 150'000 indigene Kinder wurden in die berüchtigten Internate – die Residential Schools – geschickt, vom 19. Jahrhundert bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie sollten dort umerzogen werden. Es war der Versuch, die Indigenen zu assimilieren, ihre Kultur systematisch zu vernichten.
Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission untersuchte das System von Internaten, das sich über ganz Kanada erstreckte und kam in ihrem Bericht aus dem Jahr 2015 zum Schluss, dass es sich um einen kulturellen Genozid gehandelt hatte. Die Kirchen führten die Schulen im Auftrag des kanadischen Staats, der diese Assimilierungspolitik vorgab. Körperliche und psychische Gewalt waren weit verbreitet, ebenso sexueller Missbrauch. Die Kinder mussten unter teils erschreckenden Bedingungen in den Schulen leben. Tausende Kinder, viele davon unterernährt, starben in den Internaten, die meisten an einer ansteckenden Krankheit.
Die Schulen waren vom Staat angewiesen worden, die Kinder so kostengünstig wie möglich beizusetzen.
Viele kamen aus weit entfernten, abgelegenen Reservaten in eine Residential School. Starb ein Kind, so wurde dessen Familie vielfach unzureichend informiert – oder gar nicht. Auch wurde die Leiche meist nicht zur Familie zurückgebracht. «Die Schulen waren vom Staat angewiesen worden, die Kinder so kostengünstig wie möglich beizusetzen», erklärt Scott Hamilton, Archäologe an der Lakehead Universität. Das heisse, dass die Kinder meistens irgendwo auf dem Gelände der Schule beerdigt wurden oder auf dem Friedhof der Kirche, die die Schule betrieb.
Zahlreiche Todesfälle sind nur schlecht dokumentiert und all die Friedhöfe und Gräber zu finden, ist eine Herkulesaufgabe. Manche sind bekannt, von anderen ist die ungefähre Lage bekannt. Über die Jahrzehnte wurden aber Friedhöfe vergessen, Gräber wurden überwuchert oder überbaut, sodass sie von blossem Auge nicht mehr sichtbar sind – Grabkreuze sind über die Jahre verrottet. Gewisse Schulen wurden abgerissen oder brannten ab, manche wurden an einer anderen Stelle neu aufgebaut. Doch um etwa einen Bodenradar einzusetzen, müssen die Fachleute eine grobe Ahnung davon haben, wo die Suche beginnen soll. Archivquellen können helfen, oder Satellitenbilder.
Besonders wichtig seien aber die Geschichten jener, die die Residential Schools überlebt haben. Schon lange erzählen sie von den Zuständen in den Internaten, auch von Todesfällen und Gräbern rund um ihre Schule. «Ihre Erinnerungen bringen unsere Suche stark voran», sagt Scott Hamilton, «denn dadurch wissen wir häufig erst, in welchem Heuhaufen wir die Nadel suchen müssen.»
Als die Kommission 2015 ihren Bericht zu den Residential Schools vorstellte, forderte sie bereits die Suche nach den unmarkierten Gräbern und nach vermissten Kindern. Experten wie Scott Hamilton zeigten auf, wie man Friedhöfe finden und schützen könnte. Doch jetzt erst scheint ein Ruck durch Kanada zu gehen. Die jüngsten Funde von Gräbern machten weltweit Schlagzeilen und sie schockierten die Kanadierinnen und Kanadier, die sich aufs Neue mit ihrer kolonialen Vergangenheit konfrontiert sehen.
Und die Funde bestätigen, wovon die Überlebenden der Schulen schon lange berichten: Überall in Kanada liegen in unmarkierten Gräbern indigene Kinder – zu Hunderten, wohl Tausenden. Der kanadische Staat und die einzelnen Provinzen versprachen rasch Hilfe – und sprachen Millionen von Dollar für die kostspielige Suche, für die den Ureinwohnern häufig die Mittel fehlen. Das sei ein guter Anfang, sagt Kisha Supernant. Doch diese Arbeit sei langwierig, kompliziert, schmerzhaft – und sie werde Jahre dauern. «Am Ende werden wir wahrscheinlich nicht alle Kinder finden», sagt sie, denn manche Gräber seien wohl bereits zerstört.
«Wir haben Geschichten gehört, wie bei Bauarbeiten Knochen gefunden wurden, was aber nirgends gemeldet wurde, oder wie einige Kinder gar nicht begraben, sondern verbrannt wurden», erklärt die Archäologin. Bislang sind rund 4100 Kinder identifiziert, die an einer Residential School gestorben sind. Und es gibt lange Listen von Kindern, die als vermisst gemeldet wurden. «Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich die Liste, die sich über viele, viele Seiten erstreckt, lese», sagt Scott Hamilton. Das macht klar, dass die wahre Zahl der toten Kinder sehr viel höher sein dürfte – und dass Kanada sich auf noch viele weitere schreckliche Funde vorbereiten muss.