Zum Inhalt springen

Gräueltaten in der Ukraine Völkerrechts-Professor: «Das sind klare Kriegsverbrechen»

Angriffe auf Zivilisten: Kriegsverbrechen sind gut dokumentiert. Werden die Verantwortlichen dafür geradestehen müssen?

Der russische Angriff auf die Ukraine ist an sich bereits ein Kriegsverbrechen. Angriffskriege sind völkerrechtlich verboten. Doch dafür werde sich Russland kaum verantworten müssen, sagt Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich: «Der UNO-Sicherheitsrat müsste die Sache an den internationalen Strafgerichtshof überweisen. Das wird nicht passieren, weil Russland eine Vetomacht ist im Sicherheitsrat.» Das Unrecht dieses Krieges müsse man daher anhand einzelner Kriegsverbrechen verfolgen, sagt Diggelmann.

Bomben auf Wohnquartier

Im Gespräch mit der «Rundschau» taxiert der Völkerrechts-Professor mehrere gut dokumentierte Gräueltaten als Kriegsverbrechen. Zum Beispiel die Erschiessung eines Zivilisten auf einer Autostrasse nahe Kiew. Oder die Ereignisse vom 3. März im nordukrainischen Tschernihiw: Ein Video zeigt, wie Bomben in ein Wohngebiet einschlagen. Mehrere Dutzend Menschen sterben. Yulia M. erlebte den Angriff aus unmittelbarer Nähe. Der «Rundschau» zeigt sie, wie die Druckwelle ihre Wohnung verwüstet hat: «Alles fiel herunter. Die Wände, die Türen fielen auf die Kinder. Ich habe sie aus dem Schutt herausgeholt – alle drei.»

Oliver Diggelmann sagt: «Wenn diese Bilder die ganze Wahrheit zeigen, dann ist das klar ein Kriegsverbrechen: Ein Platz zwischen Wohnblöcken ist ein ziviles Objekt. Da kann Russland zum Beispiel auch nicht sagen, das sei militärisch genutzt worden.» Die russische Botschaft in Bern antwortete nicht auf Fragen zum Angriff in Tschernihiw.

Luftangriff auf Klinik

In einem anderen Fall aber bestreitet die russische Vertretung in der Schweiz den Vorwurf des Kriegsverbrechens: Am 9. März traf ein russischer Luftangriff die Entbindungsklinik der belagerten Hafenstadt Mariupol. Zwei Menschen und ein ungeborenes Kind starben an den Folgen des Angriffs. Die Bilder einer überlebenden schwangeren Frau gingen um die Welt.

Die russische Botschaft bestreitet den Luftangriff: «Die russische Luftwaffe führte an diesem Tag keine Einsätze durch, um Bodenziele in der Nähe von Mariupol zu treffen.» Das Bild der schwangeren Frau sei «inszeniert». Als angeblichen Beweis schickt die Botschaft der «Rundschau» ein undatiertes Video einer Essensausgabe in Mariupol, das die Frau unverletzt zeigen solle. Die Tante der Betroffenen hingegen bestätigte der «Rundschau», dass ihre Nichte bei diesem Angriff verletzt wurde. Inzwischen habe sie ihr Kind zur Welt gebracht.

Russische Vorwürfe

Russland wirft seinerseits der Ukraine Kriegsverbrechen vor: Am 14. März hätten Teile einer abgefangenen ukrainischen Rakete in Donezk 21 Zivilisten getötet. Die Ukraine bestreitet das, eine unabhängige Bestätigung für die Urheberschaft des Angriffs gibt es nicht. Die Ukraine verletzt – wenn auch in weit geringerem Mass – das humanitäre Völkerrecht in einem anderen Punkt: Die Behörden haben russische Kriegsgefangene öffentlich präsentiert. Völkerrechtler Diggelmann sagt, das sei zwar ein Verstoss gegen die Genfer Konventionen, aber kein Kriegsverbrechen. Der Verstoss sei nicht schwerwiegend genug.

Anklage gegen Putin nicht ausgeschlossen

Der internationale Strafgerichtshof ermittelt bereits wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und sammelt Beweise in der Ukraine. Oliver Diggelmann schliesst nicht aus, dass die Beweise gegen Wladimir Putin dereinst für ein Verfahren reichen könnten. Und selbst wenn sich Russlands Präsident nie vor Gericht verantworten müsse: «Die laufenden Bemühungen um eine Verfolgung von Kriegsverbrechen sind ein Signal an andere Gewaltherrscher auf der Welt.»

SRF Rundschau, 23.03.2022, 20:05 Uhr

Meistgelesene Artikel