Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD hat Grosses vor mit Europa. So steht gleich im ersten Kapitel des 177-seitigen Papiers der Titel «Ein neuer Aufbruch für Europa».
Was davon zu halten ist, erläutert der deutsche Journalist Robert Leicht. Er war von 1992 bis 1997 Chefredaktor der Wochenzeitung «Die Zeit».
SRF News: Der Koalitionsvertrag sieht eine Erneuerung Europas vor. Ist das bloss Symbolik, oder meint das die designierte neue deutsche Regierung ernst?
Robert Leicht: Unabhängig davon, wer die deutsche Regierung stellt, besteht eine Notwendigkeit zur Erneuerung Europas. Es ist an der Zeit, dass Deutschland mit Frankreich auf Augenhöhe über die erfrischende Botschaft des französischen Präsidenten bezüglich der EU sprechen kann. Damit kann man nun beginnen – falls die SPD-Basis dem Koalitionsvertrag zustimmt.
Macron will unter anderem ein gemeinsames Budget für die Eurozone und einen gemeinsamen Finanzminister. Wird die neue deutsche Regierung diese Ideen unterstützen?
In dieser Einfachheit sicher nicht. Es gibt die berechtigte Befürchtung, dass damit die letztliche Verantwortlichkeit der einzelnen Länder, die Einnahmen und Ausgaben in einem Gleichgewicht zu halten, durch eine Vergemeinschaftung der Schulden abgelöst würde. Die deutschen Sparer müssten in diesem Fall also quasi den Schlendrian anderer Länder finanzieren. Das ist in Deutschland auch mit einer europafreundlichen Regierung nicht durchzusetzen.
Es ist undenkbar, dass Berlin einen EU-Haushalt finanziert, über dessen Ausgaben andere entscheiden.
Dagegen würde nicht nur die AfD im Bundestag agitieren, auch die FDP, die sich an der Regierung nicht beteiligen wollte, würde dagegen scharf opponieren. Zudem liegt es sozusagen in der DNA der CDU, dass die Konsolidierungspolitik weitergeführt wird.
Der abtretende SPD-Vorsitzende und wohl künftige Aussenminister Martin Schulz sagte, man sei bereit, mehr Geld in den EU-Haushalt einzuzahlen...
Dazu ist Deutschland sicher bereit – wenn es die anderen EU-Mitglieder auch tun. Aber es ist undenkbar, dass Berlin einen Nebenhaushalt finanzieren würde, über dessen Ausgaben andere entscheiden. Ausserdem soll gemäss dem Koalitionsvertrag der Bundestag, also das Parlament, in der Frage das letzte Wort haben. Und nicht zu vergessen ist die öffentliche Debatte: Hier kann sich eine Haltung, wonach deutsches Geld für das Bezahlen der Schulden anderer gebraucht würde, niemals durchsetzen.
Unabhängig davon, auf welchen gemeinsamen Nenner sich Berlin und Paris in Sachen Erneuerung der EU einigen können: Allein können sie ja nichts ausrichten, es gibt ja auch noch 25 weitere EU-Staaten...
Tatsächlich, es laufen in der EU derzeit zwei Entwicklungen in unterschiedliche Richtungen: Einerseits beobachten wir die Wiederbelebung der traditionellen und essentiellen deutsch-französischen Freundschaft und Achse in Europa. Zugleich sind in den neuen EU-Ländern Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn Tendenzen festzustellen, die der EU schwer zu schaffen machen. Es besteht sogar das Risiko, dass es am östlichen Rand der EU zu Abspaltungstendenzen kommen könnte – ausserdem ist auch der Austritt der Briten noch nicht verarbeitet.
Die 27 EU-Staaten werden nun sicher nicht rasch vorwärts marschieren, nur weil sich Merkel und Macron gefunden haben.
Es kann also sein, dass die Vorwärts-Energie der EU vor allem auf ein «Kern-Europa», also die sechs Gründungsstaaten plus einige wenige, zurückfällt. Ganz sicher ist es eine viel zu optimistische Sicht zu glauben, alle 27 EU-Staaten würden nun rasch vorwärts marschieren, nur weil sich Merkel und Macron gefunden haben.
Angesichts dieser Ausgangslage: Wie viel Erneuerung in der Europapolitik erwarten Sie von der neuen deutschen Regierung?
Zunächst wird jetzt vernünftig zusammen gesprochen werden. Auch muss man versuchen, die Benelux-Staaten und Italien von einem gemeinsamen Kurs zu überzeugen. Auf jeden Fall aber dürfte die lähmende Untätigkeit der letzten Jahre beendet werden. Was am Schluss tatsächlich herauskommt, wird man sehen. Doch den Europäern ist seit der Amtsübernahme von US-Präsident Trump klar, dass sie ihre Sache selber anpacken müssen. Mit Trump ist die Vorstellung einer wohlwollenden Patronatsmacht in Washington verloren gegangen. Und das zu Recht.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.