Am 7. Januar 2015 stürmen zwei Brüder die Redaktion des Satire-Magazins «Charlie Hebdo» und töten zwölf Menschen. Zwei Tage später erschiesst ein weiterer Attentäter vier Menschen in einem koscheren Supermarkt. Die Ermittlungen zeigen: Zwei der Terroristen kannten sich aus dem Gefängnis.
Seither wurde Frankreich wiederholt Ziel von dschihadistischen Anschlägen. Vielen Attentätern ist gemeinsam, dass sie nicht etwa in Moscheen radikalisiert wurden, sondern in Gefängnissen.
Wo Hochideologisierte auf Haltlose treffen
Dort trifft eine spezielle Klientel auf engem Raum zusammen: Terroristen, Rückkehrer aus IS-Kriegsgebieten, Kleinkriminelle, Straftäter mit und ohne religiöse Prägung. Gute Voraussetzungen für islamistische Radikalisierung.
«Islamistische Radikalisierung hinter Gittern ist seit Jahren ein Problem», sagt der deutsche Psychologe und Islam-Experte Ahmad Mansour. Auch der französische Soziologe Farhad Khosrokhavar hält fest: In den Gefängnissen beginnt oftmals die Bildung konspirativer Zellen, die später in Terror münden.
Menschenunwürdige Zustände
Nun zeigt sich: Die Zahl der Häftlinge in französischen Gefängnissen hat einen neuen Höchststand erreicht. Und: Die Zustände sind nach wie vor prekär. So waren Anfang Dezember 71'000 Menschen inhaftiert – Platz gibt es allerdings nur für 60'000. «Das ist die Realität seit vielen Jahren», bestätigt Frankreich-Mitarbeiter Rudolf Balmer.
Oft müssten sich bis zu vier Häftlinge eine Zelle teilen: «Und gegenwärtig schlafen 1500 Häftlinge auf Matratzen, die abends auf dem Boden ausgebreitet werden.»
Das gewalttätige Klima in den Gefängnissen fördert die islamistische Radikalisierung.
Die Haftbedingungen in vielen Gefängnissen seien menschenunwürdig, sagt Balmer. Die Folge: Revolten seitens der Inhaftierten, aber auch der Wärter, die unter den Bedingungen leiden. Und ganz allgemein ein gewalttätiges Klima in den Haftanstalten: «Dieses fördert die islamistische Radikalisierung.»
Neu ist das Thema allerdings nicht. Schon François Hollande versprach bis 2025 den Bau von 10'000 bis 16'000 neuer Zellen. Während seiner Präsidentschaft, die 2017 zu Ende ging, wurde Frankreich von verheerenden Anschlägen heimgesucht. 2016 liess der damalige Justizminister Jean-Jacques Urvoas verlauten, dass die Unterbringung in Einzelzellen ein Mittel gegen Radikalisierung sei.
Das Tempo hält der «Nachfrage» nicht stand
Aus den Versprechen von damals ist bislang wenig geworden. «Zwar werden neue Gefängnisse gebaut. Nur hält das Tempo nicht mit der Nachfrage mit», sagt Balmer. Das Problem sei allerdings nicht erst seit Präsident Hollande bekannt.
Die Überbelegung in französischen Gefängnissen hat auch zur Folge, dass verurteilte Delinquenten ihre Haftstrafen manchmal gar nicht antreten müssen: «Das betrifft einen beträchtlichen Teil derjenigen, die zu kurzen Haftstrafen verurteilt werden. Das empört die Gesellschaft», so der Frankreich-Experte.
Für echte Reformen fehlt das Geld
Abhilfe könnten alternative Strafen für leichtere Fälle schaffen, bei denen keine Gefahr von den Delinquenten ausgehe, so Balmer. So etwa Fussfesseln. Auch die Legalisierung des Cannabis-Konsums könnte die angespannte Situation in den Gefängnissen entschärfen und Platz schaffen.
Schliesslich brauche es eine generelle Justizreform. Das habe aber einen Haken – so Balmer: «Wie jede Reform kostet das viel Geld. Und genau dieses Geld fehlt heute in der Staatskasse.»