Im Kofferraum eines Taxis wurde das Mädchen letztendlich ins Spital geschleust, über den Hintereingang. Ihre Begleiter berichteten später, sie habe die ganze Zeit über einen Stoffbär im Arm gehalten. Die schwangere Zehnjährige war in die Schusslinie eines in Brasilien hochideologisierten Konfliktes geraten, in dem Welten aufeinander prallen, beide vor dem Spital vertreten: Anti-Abtreibungsaktivisten riefen «Mörder, Mörder» und versuchten, in das Gebäude einzudringen. Aber auch Frauenrechtlerinnen waren gekommen, sie riefen: «Erzwungene Schwangerschaft ist Folter!»
Abtreibung ist in Brasilien ein politisiertes Reizthema, auch wenn richterlich genehmigt. Doch normalerweise wird Stillschweigen bewahrt: Weder der Name der Betroffenen wird bekannt, auch nicht der des Spitals, in dem eine Abtreibung durchgeführt wird. In dem Fall war das anders: Eine rechte Aktivistin hatte die Daten via Twitter verbreitet. Ihr Account ist inzwischen gesperrt.
Einfluss der Evangelikalen
Erlaubt ist ein Schwangerschaftsabbruch in Brasilien nur im Falle einer Vergewaltigung, wenn Gefahr für das Leben der Mutter besteht oder der Fötus nicht lebensfähig ist – so ist es seit den 1940ern gesetzlich verankert. Doch selbst das ist den Abtreibungsgegnern zu viel: Sie wollen die Zeit zurückdrehen und Schwangerschaftsabbrüche generell verbieten.
Insbesondere radikale Evangelikale setzen sich für ein Verbot ein. Seit der Amtsübernahme von Präsident Jair Bolsonaro haben sie an Einfluss gewonnen, bereits im Wahlkampf war er eine Allianz mit ihnen eingegangen.
Die Frauen- und Familienministerin, eine evangelikale Pfarrerin, hat die Entscheidung des Gerichts, das die Abtreibung im Fall der Zehnjährigen genehmigt hat, bei Facebook bedauert. Doch auch der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz bezeichnete den Missbrauch und die legale Abtreibung als «zwei abscheuliche Verbrechen».
Immer wieder werden Ärzte oder Aktivisten in Brasilien von Extremisten bedroht, manche haben darum bereits das Land verlassen. Auch der aktuelle Fall zeigt, dass Drohungen durchaus Wirkung zeigen: Ein Spital in der Nähe des Heimatortes des Mädchens hatte sich geweigert, die Abtreibung durchzuführen – angeblich fehlte es an technischem Gerät. Das schwangere Kind musste dann in eine über 1300 Kilometer entfernte Klinik geflogen werden.
Hunderte Mädchen betroffen
Die Zehnjährige ist kein Einzelfall. In Brasilien werden pro Tag im Schnitt sechs Abtreibungen bei Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren durchgeführt, in der ersten Jahreshälfte 2020 waren es mindestens 600. Und dazu kommen 26'000 Geburten von Müttern, ebenfalls in dieser Altersgruppe. Erschreckend ist auch die hohe Zahl der Vergewaltigungen: Im Jahr 2018 wurden 66'000 Frauen vergewaltigt, mehr als die Hälfte davon war noch keine 13 Jahre alt. Täter sind meist Verwandte.
Durchgeführt wurde die Abtreibung am Sonntagabend – doch noch immer wird der Fall des Mädchens in den sozialen Medien hitzig diskutiert. Die Bildungsministerin des Bundesstaats São Paulo ging so weit zu twittern, es handele sich in diesem Fall wohl nicht um Gewalt. Denn schliesslich habe das Mädchen ja seit vier Jahren eine sexuelle Beziehung mit dem Mann gehabt – also, seit es sechs Jahre alt war. Dass es sich dabei um eine strafbare Handlung handelt, bei dem das Mädchen das Opfer ist, erwähnte sie nicht.
Der Onkel, der das Mädchen über Jahre hinweg missbrauchte, wurde inzwischen verhaftet.
Die Zehnjährige ist kein Einzelfall. In Brasilien werden pro Tag im Schnitt sechs Abtreibungen bei Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren durchgeführt, in der ersten Jahreshälfte 2020 waren es mindestens 600.