Millionen Menschen im Nordwesten Syriens sind nach einem Veto im UNO-Sicherheitsrat vorerst von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Im mächtigsten UNO-Gremium legte Russland ein Veto gegen die Verlängerung einer Resolution zur weiteren Öffnung des wichtigen Grenzübergangs Bab al-Hawa für neun Monate ein. Wieso die Hilfslieferungen auch ohne Veto durchgeführt werden sollten, erklärt Svenja Borschulte von der Menschenrechtsorganisation «Adopt a Revolution».
SRF News: Wie sieht die Versorgungssituation in Idlib aktuell aus?
Svenja Borgschulte: Die Versorgungslage ist katastrophal. Seit den Erdbeben ist sie nochmals dramatischer geworden. Bereits vorher konnten nicht alle Menschen versorgt werden. Wir reden hier von einer Versorgungsnot von 90 Prozent der Menschen, die unmittelbar auf UNO-Hilfslieferungen angewiesen sind. Bereits im vergangenen Jahr gingen die Hilfen zurück, beispielsweise wurden Lebensmittelpakete nach unten rationiert, sodass Familien weniger hatten. Vor einem Jahr, also noch lange vor den Erdbeben, kam doppelt so viel Hilfe an wie heute.
Die syrische Regierung von Baschar al-Assad sieht die UNO-Hilfslieferungen als Verletzung der Souveränität an und will diese unter eigener Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus verteilen. Kann das funktionieren?
Nein, und hier darf sich die UNO nicht täuschen lassen. Zum einen ist es so, dass man weder diese UNO-Resolution noch die Zusage Assads braucht, um dorthin Hilfe liefern zu dürfen. Das Völkerrecht ist in diesem Punkt deutlich und man braucht hierfür keinen UNO-Sicherheitsratsbeschluss. Was man auf keinen Fall machen sollte, ist die Hilfe in Assads Hände zu geben und über Damaskus laufen zu lassen. Die Region, um die es bei diesen Hilfslieferungen geht, der Nordwesten Syriens und die Region Idlib, sind nach wie vor unter Dauerbeschuss und Bombardierung durch das Assad-Regime.
Die Region befindet sich nicht unter Kontrolle des Regimes. Es ist klar, dass diese Hilfen niemals in der Region ankommen würden. Zusätzlich muss man anmerken, dass die Hilfen für die Menschen im Assad-Regime ebenfalls nicht ankommen. Vieles davon wird durch das Regime in die eigene Tasche gestopft, und es werden diejenigen Leute begünstigt, welche loyal sind.
De facto ist das Gebiet aber nicht unter Kontrolle des Assad-Regimes und deshalb hat das Regime keine Mitspracherecht, die UNO könnte ohne Probleme liefern.
Könnten Hilfslieferungen nach Idlib nicht auch ohne Bewilligung des UNO-Sicherheitsrats stattfinden?
Absolut. Man braucht die Zusagen von den beteiligten Akteuren, beispielsweise der Türkei. Die beteiligten Akteure dürfen nicht ohne Grund Nein sagen, es bräuchte triftige Gründe, wie beispielsweise eine Militäroperation, was aber vor Ort nicht gegeben ist. Das Regime sieht das anders und argumentiert damit, dass es sein Hoheitsgebiet ist. De facto ist das Gebiet aber nicht unter Kontrolle des Assad-Regimes und deshalb hat das Regime keine Mitspracherecht. Die UNO könnte ohne Probleme liefern. Die Geberländer sind ebenfalls gefordert, sich Hilfsorganisationen zu suchen, mit denen sie konkret direkt vor Ort arbeiten können, um das Regime zu umgehen.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass bald eine Lösung gefunden wird?
Im letzten Jahr hatten wir die gleiche Situation, auch da ist es am Ende noch einmal gut ausgegangen. Aktuell ist der Grenzübergang geschlossen, es muss nun schnell gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Lösung geben wird. Allerdings kann das nicht die Zukunft sein, dass wir regelmässig darum ringen, dass vier Millionen Menschen nicht von überlebenswichtiger Hilfe abgeschnitten werden.
Das Gespräch führte Dominik Rolli.