Eine herrschaftliche Auffahrt, ein schlossähnliches Hauptgebäude, im grosszügigen Park alte Villen und moderne Schulhäuser. So wie die Gallaudet University hat ein vornehmer amerikanischer Universitäts-Campus auszusehen.
Nur ungewöhnlich ruhig ist es auf dem Schulgelände. Ruhig und doch lebendig, denn überall unterhalten sich junge Menschen – in Gebärdensprache.
«Wir teilen eine gemeinsame Sprache und Kultur», erklärt Jehanne McCullaugh sagt uns ihre Dolmetscherin. Denn Jehanne ist seit Geburt gehörlos. Mit Hörenden kommuniziert die 21-jährige Politologiestudentin vorwiegend schriftlich, was dank Smartphone, E-Mail und Whatsapp immer einfacher geht – oder eben mittels einer Gebärdensprachen-Übersetzerin.
Mit anderen Studenten, Professorinnen und Angestellten kann sich Jehanne direkt unterhalten, in der Gebärdensprache ASL.
Wer gebärdet, sei nicht behindert, sondern gehöre einfach einer sprachlichen Minderheit an, sagt Jehanne. Eine Minderheit, die an der Gallaudet die grosse Mehrheit ist. Denn praktisch alle hier sind taub, stark schwerhörig oder haben gehörlose Eltern.
Wer gebärdet, ist nicht behindert, sondern gehört einfach einer sprachlichen Minderheit an.
Meist zum ersten Mal in ihrem Leben seien die Studierenden hier nicht Sonderfälle, sondern gleich wie alle anderen, betont Gallaudet-Präsidentin Roberta Cordano in ihren Worten, aber mit der Stimme ihrer Dolmetscherin: «Das fördert die Selbstfindung und das Selbstbewusstsein.»
Gerade für Studierende sei die direkte Kommunikation ohne Umweg über Dolmetscher aber auch inhaltlich wichtig: «Aus der Hirnforschung wissen wir, dass bis zu 50 Prozent der Informationen verloren gehen, wenn ein Dolmetscher zwischen Sender und Aufnehmende geschaltet wird.»
Das erschwert das Studium für Gehörlose zusätzlich, wie Präsidentin Cordano aus eigener Erfahrung weiss. Sie hat an einem gewöhnlichen College studiert. 1990 wurde sie eine der ersten gehörlosen Anwältinnen in den USA. Heute sind es über 350.
Anti-Diskriminierungsgesetz eröffnete neue Wege
Zentral für diese bemerkenswerte Veränderung war und ist das 1990 in Kraft getretene «American with Disabilities»-Gesetz, das die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in den USA wenigstens theoretisch verbietet. Es lehnt sich eng an die Bürgerrechtsgesetze aus den 1960er Jahren an und ermöglichte vielen Betroffenen eindrückliche Karrieren.
Dr. Cordano ist bereits die dritte gehörlose Gallaudet-Rektorin. Sie ist Chefin eines 200 Millionen-Dollar-Unternehmens mit 1900 Studierenden und fast 1000 Angestellten.
«Deaf space»
Eine von Ihnen ist die Psychologie-Professorin Caroline Kobek-Pezzarossi. Sie denkt viel über «deaf space» nach, eine für gehörlose Menschen besonders geeignete Umgebung: Die Bänke in den Klassenzimmern sind U-förmig angeordnet, damit sich alle immer in die Augen schauen können.
Überhaupt sollte es möglichst wenig optische Barrieren geben, dafür viel Glas, breite Gänge, gedämpfte Farben und natürlich eine optimale Beleuchtung. «Wie sollen Gehörlose im Dunklen miteinander kommunizieren können? Die richtige Umgebung macht vieles möglich.»
Politologie-Studentin Jehanne McCullaugh jedenfalls lässt sich nicht behindern. Letztes Jahr war sie Praktikantin im Wahlkampfteam von Hillary Clinton. Sie ist Präsidentin des Studentenrates und arbeitet für Bürgerrechtsorganisationen. «Ich kann alles – ausser hören», soll das heissen. Jehanne nickt entschlossen und formt mit rechtem Daumen und Zeigefinger einen Kreis. «Perfekt!»