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Im Corona-Hotspot Neukölln im Kampf gegen Pandemie und Hierarchie

Berlin-Neukölln war einer der Corona-Hotspots. Vieles lief falsch, kritisiert der Leiter des Neuköllner Gesundheitsamts. Seine Kritik sagt viel aus über ganz Deutschland.

Berlin-Neukölln. 165’000 Einwohnerinnen und Einwohner, fast die Hälfte mit einem Migrationshintergrund, 150 Nationen auf zwölf Quadratkilometern. Kein einfacher Kiez. Immerhin: Inzwischen sind 63 Prozent der 18- bis 60-Jährigen zweimal geimpft. 

In den ersten drei Wellen war Neukölln deutschlandweit ein Corona-Hotspot. An vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie sind in Deutschland die Gesundheitsämter. Negativschlagzeilen machte der Kampf mit dem Faxgerät gegen Corona. Nicolai Savaskan ist Amtsarzt und Leiter des Gesundheitsamtes Neukölln und stellt klar: «Auch Gesundheitsämter verfügen über Computer und können E-Mails versenden.»

Aber der Datenschutz liess dies im Falle von Corona zunächst nicht zu. Das Gesundheitsamt Neukölln durfte zunächst nur diejenigen in Quarantäne schicken, die in Neukölln wohnen, jedoch nicht positiv Getestete anderer Stadtteile. Und die Gesundheitsämter mussten eine gesetzlich vorgeschriebene Software nutzen, die es nur ermöglichte, ausschliesslich der vorgesetzten Stelle nach oben Meldung zu machen. Mehr nicht.

Wir mussten eine Software bedienen, die die Gesundheitsämter komplett kastriert hat.
Autor: Nicolai Savaskan Amtsarzt und Leiter des Gesundheitsamtes Neukölln

«Wir mussten eine Software bedienen, die die Gesundheitsämter komplett kastriert hat», sagt Savaskan. Auch zwischen den Gesundheitsämtern konnte nicht kommuniziert werden. Inzwischen gibt es glücklicherweise die Software Sormas, eine Revolution. «Sie erlaubt, dass die Gesundheitsämter miteinander Daten auf Datenbankenebene austauschen können.»

«Architekturfehler»

Dieser Austausch sei essenziell für die Arbeit der Gesundheitsämter. «Nur die Gesundheitsämter verfügen über den Auftrag, die Infizierten und deren Umfeld zu erfassen.» Doch absurderweise ist die neue Software nur für Covid-19 zugelassen, nicht aber für die Meldung und den Austausch von Informationen anderer Krankheiten. Dieses Beispiel spricht Bände über ein hierarchisches Selbstverständnis Deutschlands.

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Aus dem Archiv: Werden unsere Ärzte nach Corona endlich digitaler?
aus Input Story vom 29.04.2020. Bild: Keystone
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Sorgen bereitet Nicolai Savaskan auch die Situation der Kinder. «Was alle Verbände der Pädiatrie, der Kinderheilkunde berichten, ist erschütternd. Wir haben eine steile Zunahme der Übergewichtigkeit, der Mediensucht und des sozial auffälligen Verhaltens.» Umso mehr plädiert Nicolai Savaskan dafür, die Quarantänepraxis an den Schulen zu ändern.

Anpassung der Quarantänepraxis an Schulen?

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Schulklassen in Berlin müssten bei Coronafällen fünf Tage in Quarantäne, aber das sei medizinisch nicht nötig und vor allem schädlich für die Gesundheit der Kinder, sagt Savaskan. In einem Papier fordern alle zwölf Gesundheitsämter der Stadt, bei Vorliegen eines positiven Tests nur das betroffene Kind, die engsten Schulfreunde und die familiären Kontaktpersonen in Quarantäne zu schicken, nicht aber die gesamte Klasse.

«Infektionsketten im Setting Schule und Kita kommen in weniger als fünf Prozent der Fälle vor.» Ansteckungen geschähen in erster Linie zu Hause. Die betroffenen Klassen sollen dagegen fünf Tage hintereinander getestet werden. Grund: 90 Prozent der Infektionen stammten von der Delta-Variante, bei der innerhalb von drei bis fünf Tagen Symptome auftreten.

Nicolai Savaskan lehnt auch die Einführung kostenpflichtiger Corona-Schnelltests ab 11. Oktober ab. Das komme in Anbetracht des pandemischen Verlaufs zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Wichtiger wäre es, die Menschen zu erreichen.

Denn viele könnten gar nicht genau begründen, warum sie sich bislang nicht hatten impfen lassen: Keine Zeit oder eine komplizierte Registrierung. Oder schlicht keine Notwendigkeit, weil sich niemand im Freundeskreis impfen lasse.

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Aus dem Archiv: Bald keine kostenlosen Tests in Deutschland
aus 4x4 Podcast vom 11.08.2021. Bild: Keystone
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Was die Bevölkerung mit Migrationshintergrund betreffe, gäbe es keine grössere Reservation gegenüber dem Impfen. «Wir merken, dass es in der migrantischen Bevölkerung generell wenig Beziehungen und Kontaktpflege zu behördlichen Arbeiten gibt.» Also gelte es, mit dem Impfstoff zu den Menschen zu gehen. Inzwischen sei auch bekannt, dass es hygienisch unbedenklich sei, beispielsweise in Clubs zu impfen.

Klare Bestandsaufnahme an vorderster Front

Deutschland hat eine wesentlich rigidere und pauschalere Lockdown-Politik verfolgt als die Schweiz. Savaskan kritisiert das im Rückblick. «Auch in der Nachbetrachtung hat die Kritik Bestand, dass pauschale Massnahmen über alle Regionen, unabhängig, ob es sich um ein Land, eine Stadt, ein Dorf handelt, nicht der richtige Weg sind.»

Echo der Zeit, 14.09.2021, 18 Uhr

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