Der mutmassliche Täter von New York hat in einem Manifest seinen Frust über die Profitgier der Versicherungsgesellschaften zum Ausdruck gebracht und damit den Nerv vieler Amerikanerinnen und Amerikaner getroffen. Die Krankenversicherung ist in den USA privat und nicht obligatorisch. Erst ab dem Seniorenalter ist man in einer staatlichen Krankenkasse versichert.
Ein grosses Problem sei, dass auch diejenigen, die versichert sind, zu viel aus der eigenen Tasche bezahlen müssten, sagte Nicholas Florko gegenüber dem TV-Sender PBS. Florko berichtet für das renommierte Magazin «The Atlantic» über das US-Gesundheitssystem.
Viele können sich nicht behandeln lassen
«Es gibt Statistiken, die zeigen, dass ein erheblicher Teil der Menschen auf Behandlungen verzichten muss, weil die Kosten so hoch sind», sagt er. Deshalb reagierten viele Menschen jetzt so emotional auf den Mord am CEO eines der grössten US-Krankenversicherers.
Laut Statistiken haben mehr als 40 Prozent der Erwachsenen Schulden infolge ärztlicher Behandlung. In der Hälfte der Fälle beträgt die Schuld 5000 Dollar oder mehr. Und so entfachte der Mord die Diskussion neu, ob die Versicherer in dem gewinnorientierten System ihre Macht missbrauchen, indem sie zu aggressiv vorgehen und sich weigern, gewisse medizinische Leistungen zu vergüten.
Hinzu kommen die hohen Arzneimittelkosten: In den USA gab es bis vor kurzem überhaupt keine Verhandlungen zwischen der Regierung und den Herstellern, um die Preise für Medikamente festzulegen. Auch Präsident Biden gelang es nur sehr beschränkt, dieses Vorhaben voranzutreiben.
Die Abhängigkeit von privaten Versicherungen führe dazu, dass sich viele Menschen machtlos fühlten, so Florko. Zwar hätten politische Reformen vor allem unter Präsident Obama und zuletzt auch unter Präsident Biden Verbesserungen gebracht, vor allem auch für Seniorinnen und Senioren. «Doch es müsste noch viel mehr gemacht werden», sagt er. Eine Lösung hat aber auch er nicht.
Wie bloss dieses System reformieren?
Seit der Einführung von Obamacare haben Patientinnen und Patienten bessere Möglichkeiten, gegen verweigerte Zahlungen der Krankenkassen vorzugehen. Das sei eine wichtige Verbesserung, so der Gesundheitsjournalist. Auch Reformvorschläge gegen die Taktik der Versicherer, häufig Vorabgenehmigungen zu verlangen, könnten hilfreich sein.
«Aber ich glaube nicht, dass wir an einem Punkt sind, an dem wir vollständig herausgefunden haben, wie dieses private System funktionieren kann, ohne den Menschen, die es bezahlen müssen, viel Leid zuzufügen», sagt Florko.
Viel Hass auf der Plattform X
Wie gross der Unmut der Amerikanerinnen und Amerikaner ist, zeigt die Tatasche, dass es in den sozialen Medien viele Beiträge gibt, die den Tod des Versicherungsbosses bejubeln. Florko schrieb im «Atlantic» einen Artikel mit dem Titel «Mord ist eine schreckliche Antwort auf die Wut im Gesundheitswesen» . Er war selbst überrascht, wie viele hasserfüllte Reaktionen es darauf gab.
«Es war unglaublich», sagt er. «Die Leute sind so wütend – ich habe wohl noch nie so etwas erlebt.» Das Ausmass an Hass und dessen Verbreitung, vor allem auf X, sei «enorm».
Und so zeige die Begeisterung mancher für den Tod eines Versicherungsmanagers auch die Verrohung des öffentlichen Diskurses – und nicht nur die Wut über die Mängel des amerikanischen Gesundheitssystems.