Ein Journalist fragt eine Frau im Zaatari-Flüchtlingslager, warum ihr 8-jähriger Sohn nicht zur Schule gehe. Sie antwortet ihm, dass er die Schule nicht möge. Denn zu Hause in Daraa sei ein Regimevertreter ins Zimmer der zweiten Klasse getreten und habe ihren Sohn gezwungen, eine Handgranate an seine Brust zu halten.
Der Regimevertreter habe zu ihm gesagt: «Geh nach Hause zu deinem Vater. Sag ihm, wenn er nicht aufhört, für die Freie Syrische Armee zu kämpfen, komme ich nächste Woche wieder und ziehe den Zünder.»
Diese Anekdote ist Zeugnis der Brutalität im syrischen Bürgerkrieg und der Traumata der betroffenen Kinder. Sie stammt von einem Journalist, der in der «Washington Post» über seine Erlebnisse im Flüchtlingslager in Jordanien berichtete.
Lager ist viertgrösste Stadt Jordaniens
Das Lager liegt 10 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt im Norden des Landes. Es war vor einem Jahr eröffnet worden und sollte 60‘000 Flüchtlingen Schutz bieten.
Inzwischen ist es zum zweitgrössten Flüchtlingslager der Welt angewachsen – grösser ist nur das Lager in Dadaab in Kenia. Mit seinen 120‘000 Flüchtlingen wäre das Zaatari-Camp auch die viertgrösste Stadt in Jordanien.
Viele Syrer kehren zurück
Während den ersten Monaten dieses Jahres flohen jede Nacht Tausende Syrer ins Land. Im April wurden im Lager 200'000 Flüchtlinge gezählt. In den vergangenen Wochen kamen wesentlich weniger.
«Man hört, dass die Grenzen nicht mehr so leicht passierbar sind», sagt Lise Salavert von Handicap International, ein Hilfswerk. Angeblich wolle die jordanische Regierung damit den Flüchtlingsstrom eindämmen – doch das sei nicht offiziell. Bereits leben etwa 650‘000 syrische Flüchtlinge im Land. Jordanien selber hat 6,3 Millionen Einwohner.
Viele Syrer verliessen das Lager mittlerweile wieder. Sie versuchen, sich ein Leben in Jordanien aufzubauen. Andere kehren zurück nach Syrien. Sie sind frustriert. «Hier sterben wir einfach einen langsamen Tod», sagen viele über ihre ausweglose Situation.
In den vergangenen Tagen kam es wegen der Giftgasanschläge auch zu Demonstrationen im Camp. Man solle das Assad-Regime endlich stürzen.
Verletzungen von Schüssen und Bombenanschlägen
Die Französin Lise Salavert ist im Zaatari-Camp verantwortlich für das Hilfszentrum, das sich um verletzte, behinderte und schwachen Personen kümmert. Dieses Projekt von Handicap International ist eines der von der Glückskette mitfinanzierten Projekte für die Syrien-Opfer.
Die meisten der Männer, Frauen und Kinder, die zum Hilfszentrum kommen, tragen Verletzungen von Schüssen und Bombenanschlägen. Die Folge sind komplizierte Brüche, Amputationen und Lähmungen. «Wir versuchen, ihre Mobilität so gut es geht zu verbessern – beispielsweise mit Physiotherapie, Krücken oder Rollstühlen.»
Die Hilfswerke vor Ort kommen kaum nach, die dringendsten Bedürfnisse der Flüchtlinge zu erfüllen. Das UNO-Welternährungsprogramm verteilte innerhalb eines Jahres 92 Millionen Laib Brote. Tankfahrzeuge bringen über 3 Millionen Liter Wasser – pro Tag. Derzeit kostet der Unterhalt des Lagers täglich eine Million US-Dollar.
Vom Krieg gezeichnete Kinder
Die Zahlen sind eindrücklich – doch beklemmend sind die Fakten zu den Kindern. Die Hälfte der Flüchtlinge im Zaatari-Camp ist unter 18 Jahren. Zehntausende trafen ohne ihre Eltern im Lager ein.
Kürzlich besuchte UNO-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres das Camp. An einer Medienkonferenz berichtet er von Kindern, die von der Gewalt gezeichnet sind. Manche sprachen nicht, andere litten unter Schlafstörungen. «Ich war eine Viertelstunde bei einer Familie im Zelt», berichtet Guterres. «Während der ganzen Zeit schoss eine 4-Jährige zwanghaft mit einer Spielzeugwaffe um sich. Es war unmöglich, sie zu stoppen.»