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International «Ägyptens Traum wird zum Albtraum werden»

Die Justiz in Ägypten macht kurzen Prozess mit unliebsamen Kritikern: Muslimbrüder wurden zum Tode verurteilt, kritische Journalisten ohne Verfahren angeklagt und eingesperrt. Der Journalist Rami Khouri hat einen offenen Brief an die ägyptische Justiz geschrieben. Warum, erzählte er dem SRF.

SRF: Die ägyptische Justiz hat innert Stunden über 1000 Muslimbrüder zum Tode verurteilt, sie hat Journalisten des Terrorismus bezichtigt und ohne Gerichtsurteil inhaftieren lassen. Macht Sie das wütend oder schockiert Sie das?

Zur Person

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Legende: udel.edu

Rami Khouri ist einer der bekanntesten Journalisten im arabischsprachigen Raum. Er schrieb jüngst einen offenen Brief im «Daily Star» an die ägyptische Justiz – mit der grossen Frage, weshalb die Modernisierung des Staats dermassen mit Füssen getreten werde. Er lehrt an der Amerikanischen Universität in Beirut.

Rami Khouri: Ich bin nicht schockiert. Weltweit haben autoritäre Regierungen solcherlei veranlasst. Aber ich bin traurig. Ägypten ist die grosse Führungsnation der arabischen Welt. Die ägyptische Justiz hatte während 50 bis 60 Jahren einen sehr guten Ruf.

Die Richter wurden zum Handlanger der Macht, genau gleich wie die Leute, die auf der Strasse andere Ägypter verprügelten, wie Verbrecher. Aber wir sollten auch fair sein: Es gab nur ein oder zwei solcher Vorfälle. Nicht die ganze ägyptische Justiz hat sich so schändlich verhalten.

Sie richteten im «Daily Star» einen offenen Brief an die Richter und stellten ihnen viele Fragen. Zuallererst: «Warum reagiert das System auf diese Art und Weise?» Was ist Ihre Erklärung?

Einerseits haben Ägypter Angst. Sie erlebten in den vergangenen drei Jahren Spannungen und Belastungen, wie nie zuvor. Bombenattentate, Massendemonstrationen, steigende Nahrungsmittelpreise, Stromunterbrüche, leere Tankstellen, sexuelle Belästigung auf der Strasse. Das wurde unter Mursi immer schlimmer – und die Leute wollten, dass das aufhört.

Andererseits gibt es eine Gruppe von Leuten in der Armee und vom alten Regime, die versuchen, die Macht wieder an sich zu reissen. Diese alte Garde spielt mit den Ängsten der Leute, um General Sisi ins Präsidentenamt zu bringen.

Millionen Leute geraten nun in eine Ekstase. Sie hoffen, dass Sisi über Nacht alles in Ordnung bringt. Aber diese Leute leben in einem Traum, der sich in einen Alptraum verwandeln wird. Denn die neue Regierung wird diese Probleme nicht lösen können. Und die Lage wird sich verschlechtern, solange Autokraten und Generäle das Land führen. Erst, wenn eine wirklich demokratische Veränderung stattfindet, wird Ägypten zu seiner alten Grösse zurückfinden und eine Inspiration für die arabische Welt sein.

Es ist anzunehmen, dass General Sisi die Wahl in zehn Tagen gewinnen wird. Er verspricht Reformen, verlangt aber mehr Zeit dafür. Glauben Sie ihm nicht?

Er sollte schon Zeit dafür bekommen. Aber wir wissen nicht, was Sisi tun wird. Wir kennen seine Ideologie nicht. Wir wissen nicht, wozu er als Politiker fähig ist. Sisi sagt, er benötige zwei Jahre. Die Ägypter wollen aber wohl schon vorher Verbesserung sehen – politisch, wirtschaftlich, sozial und bezüglich Sicherheit.

Realistischer Weise sollte es ihm also in sechs oder neun Monaten gelingen, die Menschen zu einen, gemeinsam für das Wohl des Landes zu arbeiten. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er das kann. Aber wir werden es sehen, wenn er im Amt ist.

Wenn wir nochmals auf die Justiz zurückkommen – nach dem Fall von Mubarak war sie weiterhin unabhängig. Was geschah mit ihr in der Zwischenzeit?

Die Justiz bestand aus vielen verschiedenen unabhängigen Einheiten und Dienststellen. Die grossen Bundesstaats- und Verfassungsgerichte waren relativ unabhängig – während die lokalen und regionalen Gerichte eine grössere Nähe zur regierenden Partei hatten und Teil der ineffizienten Bürokratie waren.

Nach dem Fall Mubaraks versuchten die Muslimbrüder und die Armee, die Justiz zu beeinflussen. Das korrumpierte die Richter. Sie versuchten zunehmend, der Macht zu gefallen. Es ist traurig, dass das in Ägypten geschah, und hoffentlich lässt es sich wieder umkehren.

Was müsste dafür geschehen?

Dafür braucht es klare Regeln, so dass alle Ägypter in den demokratischen Prozess einbezogen werden. Nur so kann ein besseres Regierungssystem geschaffen werden.

Man kann nicht einfach die Muslimbrüder gesetzlich verbieten und sie Terroristen nennen, weil man sie von der Politik weg haben will. Denn sie repräsentieren viele Leute. Sie sind zwar keine guten Politiker, aber sie sollten die Gelegenheit erhalten, es zu werden.

Das neue politische System sollte offen sein für alle – ein Regierungssystem, das es erlaubt, das Land effizient und zum Wohle aller zu regieren.

Wieso haben Sie einen Brief geschrieben, was haben Sie erwartet?

Ich dachte, es wäre wichtig, persönlich zu werden. Ich wollte die Richter direkt ansprechen, als ein Araber, der lange Zeit Respekt hatte vor der ägyptischen Justiz. Um sie wissen zu lassen, dass zumindest ich, aber gewiss auch Millionen Andere, persönlich enttäuscht und geschockt sind von dem, was sie getan haben. Dass sie über das eine und andere nachdenken. Und wenn sie sehen, dass ihr Ansehen sinkt, dass sie dann mit dem Unsinn aufhören.

Haben Sie Reaktionen bekommen?

Ich bekomme allerlei Reaktionen, aus der ganzen Welt. Aber von keinem ägyptischen Richter. Wobei ich das gerne würde.

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