SRF News: Heute Donnerstag findet ein weiterer EU-Gipfel statt. Dabei grosses Thema: Die Flüchtlingskrise. Die deutsche Bundeskanzlerin steht mit ihrer Politik in Europa allein auf weiter Flur – und auch innenpolitisch wird der Druck auf sie immer grösser. Wie geht Merkel damit um?
Stefan Kornelius: Unglaublich ruhig, trotz der Hysterie in ihrer eigenen Partei. Ich habe sie erst kürzlich getroffen und finde ihre Ruhe beinahe schon irritierend. Sie reduziert die Probleme auf Sachfragen, an denen sie arbeiten muss. Und sie versucht mit unglaublicher Energie Regelungen zu schaffen, die ebendiese Probleme lösen.
Merkel sieht das grössere Ganze: Sie will den Schengen-Raum auf jeden Fall retten. Wenn die Grenzen geschlossen werden, ist das der Beginn der Zerstörung Europas. Und sie weiss, dass dafür vor allem eine Lösung mit der Türkei gefunden werden muss, um die Flüchtlingsbewegungen in geordnete Bahnen zu lenken. Bei aller Kakophonie und Unsachlichkeit in der Debatte ist es fast schon beruhigend, dass Merkel stoisch und sachorientiert bleibt.
Trotzdem: Innerhalb Europas steht sie ziemlich alleine da.
Nicht ganz, es gibt eine Reihe von Staaten, die sie unterstützen. Allerdings ist die Ignoranz von Staaten wie Frankreich gegenüber der Gefahr für Schengen sträflich. Sie sägen den Ast ab, auf dem sie selber sitzen. Wenn Schengen fällt, führt das zu dramatischen Problemen im Binnenmarkt und auch zu politischer Instabilität. Staaten auf dem Balkan stehen jetzt schon unter enormen Spannungen. Und Griechenland könnte kollabieren, wenn es alleine gelassen wird. All das ist eine echte Gefahr für Europa.
Merkel hat es aber aufgegeben, nach einer einheitlichen Lösung für alle europäischen Länder zu suchen. Einige werden mitmachen, die meisten aber nicht. Ihr Plan ist vor allem, Chaos in ein geordnetes Verfahren zu überführen und die Balkanroute auszutrocknen. Dazu will sie – zusammen mit Ländern der «Koalition der Willigen» – ein Kontingent von Flüchtlingen aufnehmen. Die Rede ist von bis zu 300'000, die geordnet nach Europa reisen dürfen. Auf der anderen Seite soll die Türkei die Grenzen Richtung Europa schliessen.
Sie sagen es aber selbst: Die meisten Länder Europas wollen dabei nicht mitmachen.
In der «Koalition der Willigen» sind zwar nur wenige Länder, wie beispielsweise Österreich oder die Niederlande, das ist richtig. Doch setzt Merkel vor allem auf die Gespräche mit der Türkei. Denn dort kann am meisten verändert werden: Auch Präsident Erdogan hat kein Interesse daran, dass die Wirtschaft seines Landes künftig mehr von Menschenschmugglern als vom Tourismus abhängig ist.
Ein Selfie schickt keine Million Migranten auf den Weg.
Auch innenpolitisch weht Merkel ein rauer Wind entgegen. Vor allem, weil sie die Flüchtlinge, salopp gesagt, nach Deutschland eingeladen hat – und an der Offenheit festhält.
Das ist eine Unterstellung. Sie hat die Menschen nicht eingeladen, und ein Selfie schickt keine Million Migranten auf den Weg. Wenn man ihre Politik seit Oktober 2015 anschaut, so hat sie vor allem am Aufbau von neuen Schranken gearbeitet: So hat die Koalition beispielsweise zwei radikale Verschärfungen der Asylgesetzgebung beschlossen.
Merkel weiss, dass Deutschland wegen seiner Gesetzgebung und seiner Offenheit für Flüchtlinge sehr attraktiv ist. Und die Gesetze lassen sich nicht einfach von heute auf morgen ändern.
Alles scheint die Kanzlerin aber nicht richtig zu machen: Laut dem ZDF-Politbarometer vom Januar glauben 60 Prozent der Deutschen, dass die grossen Flüchtlingszahlen für das Land nicht verkraftbar seien.
Sie hat einen grossen Fehler gemacht: Ihre abwehrende Politik wurde nie richtig kommuniziert. Damit hätte sie sich mehr Zeit kaufen können. Denn die Bevölkerung ist verunsichert und hat zum Teil das Gefühl, überrollt zu werden. Dabei bin ich überzeugt, dass es in Deutschland die Bereitschaft für eine konstruktive Flüchtlingspolitik und zu einer besseren Integration gäbe, wenn die Menschen verstünden, was auf der politischen Seite gemacht wird. Hier wäre eine klarere Kommunikation wichtig.
Weshalb verzichtet sie darauf?
Kommunikation war immer ihre Schwäche. Merkel ist der Meinung, dass es die beste Botschaft wäre, wenn weniger Menschen ankämen. Das kann man nicht herbeireden, sondern muss was dafür tun. Aber die Kommunikation ist diesmal nicht unwichtig, weil sie nicht unendlich Zeit hat und die Mehrheiten gepflegt sein wollen.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer meinte kürzlich in einem TV-Interview: «Wir können ganz offen reden über diese Frau (Merkel), sie hört sowieso nichts mehr.»
Seehofer rennt wie ein Besessener gegen eine Gummiwand. Dabei könnte er es besser wissen. Die deutschen Grenzen zuzumachen, ist keine Lösung. Die Flüchtlinge werden trotzdem kommen. Wenn Seehofer Schengen – und damit Europa – zerstören will, soll er dies laut sagen.