«Ok, jetzt mal ernst. Wer kommt heute Abend auf den Maidan?» Mit dieser Frage auf Facebook hat Mustafa Najem vor gut zwei Jahren den pro-westlichen Volksaufstand mitausgelöst. Jetzt sitzt er in einem Büro-Hochhaus in Kiew und muss sich eingestehen: Die Kräfte des alten Systems sind stärker als gedacht.
«Ich bin schockiert. Der Politikbetrieb läuft immer noch wie zu Zeiten von Präsident Viktor Janukowitsch, dem Mann, den der Aufstand auf dem Maidan vertrieben hat. Die gleichen Oligarchen wie damals stützen die Regierung und den Präsidenten», betont Najem.
Tatsächlich gibt die Machtelite in Kiew derzeit ein schlechtes Bild ab. Premierminister Arseni Jazenjuk hat die Mehrheit im Parlament verloren. Ein Misstrauensvotum scheiterte nur, weil mehrere Abgeordnete unter nebulösen Umständen plötzlich ihre Meinung änderten und dann doch für Jazenjuk stimmten. Hinterzimmerpolitik wie in den alten Tagen.
Das letzte Mal, als wir in einer solchen Krise steckten, kam es zum Maidan.
Najem macht das grosse Sorgen: «Die Regierung hat in der Bevölkerung fast keinen Rückhalt mehr. Die Politik ist aber unfähig, etwas zu ändern. Das letzte Mal, als wir in einer solchen Krise steckten, kam es zum Maidan», stellt Najem fest.
Najem, ein gebürtiger Afghane, der als Kind ins damals sowjetische Kiew kam, spielte beim Volksaufstand vor zwei Jahren eine wichtige Rolle. Nach seinem Aufruf bei Facebook half er mit, die Demonstrationen zu organisieren. Als landesweit bekannter Journalist hatte er beste Beziehungen zu verschiedenen Medien, die den Maidan zum Teil kräftig unterstützten.
Die vier heldenhaften Monate auf dem Maidan waren viel einfacher, als das, was danach kam.
Nachdem der Umsturz geglückt war, seien die Erwartungen der Menschen riesig gewesen, sagt Najem. Jetzt habe sich herausgestellt: Die vier heldenhaften Monate auf dem Maidan waren viel einfacher, als das, was danach kam. Es war einfacher, mit einem Molotow-Cocktail auf der Barrikade zu stehen, als nachher Tag für Tag für mehr Transparenz in der Politik, für Demokratie und gegen Korruption zu kämpfen.
Eine neue Ukraine schaffen ist also härter als gedacht. Najem nimmt für sich in Anspruch, daran mitzuarbeiten. Er sitzt mit zahlreichen anderen ehemaligen Maidan-Aktivisten im Parlament – für die Partei von Präsident Petro Poroschenko.
Es geht nicht darum, das System zu zerstören. Wir müssen das System ändern.
Hat er kein Problem damit, Teil des verrufenen Politikbetriebs zu sein? «Nein», sagt Najem und betont: «Es geht nicht darum, das System zu zerstören. Wir müssen das System ändern. 30 oder 40 meiner Parlamentarier-Kollegen denken so wie ich. Das sind zehn Prozent des Parlaments.» Auch in den Ministerien und anderen Behörden gebe es schon viele junge Reformer. Ihnen fehle es noch an Erfahrung, aber sie gewännen laufend an Einfluss: «Wir brauchen einfach mehr Zeit.»
Schwieriger Anfang in alten Strukturen
Insgesamt schaue er optimistisch in die Zukunft, sagt Najem. Schliesslich gebe es trotz aller Probleme auch Erfolge: Der Staat sei seit dem Maidan transparenter. Auch seien mehrere Anti-Korruptionsgesetze beschlossen worden, und auch der Einfluss der Medien auf die Staatsmacht sei gewachsen.
Wie mühsam der Weg nach vorne ist, zeigt das Beispiel der neuen Anti-Korruptions-Agentur. Die Behörde wurde zwar geschaffen. Sie soll weitreichende Befugnisse erhalten und etwa überprüfen können, ob der Lebensstil eines Beamten auch mit seinem Gehalt übereinstimmt.
Loslegen konnten die Korruptionsjäger bisher aber noch nicht. Der Aufbau der Agentur verzögert sich, angeblich, weil es bisher nicht möglich war, genügend Personal zu finden.
Mustafa Najem glaubt ohnehin, dass das wichtigste Resultat des Maidan ein anders ist: Die ukrainische Gesellschaft ist erwacht. Sie hat gespürt, dass sie etwas verändern kann und sie hat andere Ansprüche an die Mächtigen als früher.
Najem formuliert es auch so: «Die Ukrainer wollen frische Gesichter an der Macht. Es reicht nicht mehr, wenn Politiker einfach hübsch aussehen und nette Sachen sagen. Die Menschen wollen, dass die Mächtigen konkret etwas verändern und das Land voranbringen.»
Die Ukrainer wollen frische Gesichter an der Macht. Es reicht nicht mehr, wenn Politiker einfach hübsch aussehen und nette Sachen sagen.
Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, ist ungewiss. Immerhin könnte der blockierte ukrainische Politikbetrieb demnächst wenigstens etwas in Fahrt kommen. An der morgigen Sitzung des Parlaments soll ein neuer Versuch unternommen werden, den in Verruf geratenen Regierungschef Jazenjuk abzusetzen und so der Ukraine einen Neustart zu ermöglichen.