SRF: Am 1. September 2004 sind Sie, damals als SRF-Korrespondent, nach Beslan gereist. Was haben Sie dort angetroffen?
Gregor Sonderegger: Ein Kordon von Sicherheitskräften hat die Schule Nummer 1 in Beslan weiträumig abgesperrt. Die Angehörigen der Geiseln und die Journalisten hatten sich auf dem zentralen Platz versammelt. Die russischen Behörden sagten zunächst, in der Schule würden 300 Geiseln gehalten. Doch die Menschen auf dem Platz wussten, dass diese Zahl nicht stimmen konnte. Sie wussten: In der Schule befinden sich viel mehr Geiseln.
Wie immer in Russland in solchen Fällen versuchen die Behörden zuerst den Schaden so gering wie möglich zu halten, die Dinge kleiner zu reden als sie in Wahrheit waren. Die Angehörigen der Geiseln hatten keine Ansprechpersonen, niemand wusste, wer die Operation leitet. Zusehen zu müssen, wie diese Angehörigen in ihrer Not völlig alleine gelassen wurden, das war schlimm. Das war menschenunwürdig.
Die «Befreiung» der Geiseln am 3. September war ein einziges Chaos. Wie haben Sie das erlebt?
An diesem Tag war ab Mittag ( Anmerk. d. Red. nach der Explosion in der Schule) bis am Abend in Beslan eine bürgerkriegsähnliche Situation entstanden. Plötzlich waren die Absperrungen der Sicherheitskräfte weg, es herrschte wildes Chaos. Wir Journalisten konnten näher an die Schule heran. Ein Teil der Angehörigen holte Zuhause ihre eigenen Waffen, sie versuchten ihre Nächsten selbst zu retten. Es war ein grauenhaftes Chaos.
Je mehr ich als Journalist vor Ort gesehen hatte, umso grösser wurden meine Zweifel an der offiziellen Darstellung. Zunächst hiess es etwa, es habe zehn Tote geben, die Sache sei ausgestanden. Ich sagte damals auch bei der Liveschaltung auf dem Sender, ich würde diese offizielle Darstellung bezweifeln, man müsse mit viel mehr Toten rechnen. Die Situation sei noch immer dramatisch. Die Behörden gestanden nur häppchenweise das Ausmass des Dramas.
Diese Zweifel bestätigten sich dann auch am Tag nach dem Sturm auf die Schule. Alle vor Ort konnten in die Schule hinein und sich dort umsehen. So etwas wäre an einem Tatort mit einer solchen Dimension in Westeuropa undenkbar gewesen. Es wäre alles abgesperrt gewesen, Forensiker hätten den Tatort untersucht. Nicht so in Beslan. Uns war klar: Die russischen Behörden hatten wahrscheinlich kein Interesse daran, dass das Geiseldrama von Beslan unabhängig untersucht würde. Auch nicht, was zu diesem Sturm am dritten September geführt hatte. Das ist auch heute, zehn Jahre danach, unklar.
Wie sah es in dieser Schule aus?
Alles war komplett zerstört. Da waren überall Einschusslöcher, zerstörte Mauern, Brandspuren. Überall lagen Schulhefte herum, Kleidungsstücke, Schuhe von Kindern. Diese Spuren des Geiseldramas zu sehen, war extrem beklemmend. Man konnte sich real vorstellen, was da passiert war.
Beslan wurde nach dem Geiseldrama zum Ort der Trauer für ganz viele Menschen in und um Beslan. Die Menschen, die danach in die Schule Nummer 1 kamen, deponierten in der Turnhalle Wasserflaschen. Sie überreichten den toten Kindern so symbolisch Wasser. Das grauenhafte Schicksal dieser Kinder – teilweise wirklich kleine Kinder, Erstklässler – die drei Tage lang in der Turnhalle ausharren mussten, nichts zu trinken oder zu essen hatten, sollte nie in Vergessenheit geraten.
Diese tiefe Wunde, die in das Städtchen Beslan gerissen wurde, wird noch lange nicht verheilen.
Danach haben Sie einen Film über das Geiseldrama und die Hinterbliebenen gedreht. Welche Schicksale haben Sie da angetroffen?
Da war beispielsweise ein Familienvater, der mich kurz nach dem Sturm auf die Schule darum gebeten hatte, an die Beerdigung seiner Tochter zu kommen. Er trug seine Tochter zu Grabe, währenddessen seine Frau, die auch eine Geisel gewesen war, schwer verletzt im Spital lag. Dieser Mann durfte seiner Frau aber nicht vom Tod der Tochter berichten. Die Ärzte hatten ihm gesagt, die Nachricht würde die Heilung der Frau gefährden.
Ich habe dieses Ehepaar auch später nochmals besucht. Der Frau ging es auch da noch sehr schlecht. Sie war unendlich traurig darüber, dass sie nicht bei der Beerdigung von ihrer Tochter Abschied nehmen konnte. Das war nur eines von vielen grauenhaften Schicksalen, die ich in Beslan antraf.
Ich habe Bilder im Kopf, die mich auch heute noch verfolgen.
Man muss sich vorstellen: In einer Siedlung neben der Schule Nummer 1 lebten vor dem 1. September 2004 zahlreiche Kinder. Am 3. September wurde ein Grossteil dieser Kinder getötet. Wo vorher Kinder vor den Wohnungen spielten, war es danach ruhig. Die Kinderstimmen waren verstummt. Diese tiefe Wunde, die in das Städtchen Beslan gerissen wurde, wird noch lange nicht verheilen. Diese unglaubliche Dimension des Grauens ist in Beslan noch immer spürbar.
Das Geiseldrama war auch für erfahrene Journalisten eine aussergewöhnliche Situation. Wie ist es Ihnen ergangen?
Ich habe grauenhafte Bilder gesehen. Ich habe gesehen, wie Kinder starben. Da waren Eltern, die ihre Kinder verloren hatten und völlig verzweifelt waren. Es gab Eltern, die ihre verletzten Kinder von der Schule weg holten und sie selbst ins Spital brachten. Menschen rannten herum und versuchten zu retten, was zu retten war. Blutüberströmte Kinder irrten herum, suchten verzweifelt ihre Eltern. Da war auch ein Mann, der mich um Mithilfe bei der Suche nach seiner Frau bat. Wir haben sie dann gefunden. Sie hatte das Drama überlebt. Ich habe Bilder im Kopf, die mich auch heute noch verfolgen.
Ich kann heute sagen, zu meinem grossen Glück hatte ich damals noch keine eigenen Kinder. Ich habe einige Korrespondenten in Beslan erlebt, die beinahe zusammengebrochen wären, weil sie sich immer wieder ihre eigenen Kinder in dieser schlimmen Situation vorstellten.