Im multiethnischen Bosnien-Herzegowina hat am Dienstag die erste Volkszählung seit Ende des Krieges 1995 begonnen. Bis zum 15. Oktober befragen rund 19'000 Interviewer die Bürger des Landes. «Zum ersten Mal seit 22 Jahren erhalten wir ein vollständiges Bild der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina», so Zdenko Milinovic, Leiter der Statistikbehörde.
Der Zensus droht allerdings, die Gräben zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten weiter zu vertiefen. Warum also trotz den aufflammenden Problemen eine Volkszählung? Die ehemalige Balkan-Korrespondentin des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel», Renate Flottau, sagt: «Wegen eines möglichen EU-Beitritts verlangt Brüssel diese Volkszählung.»
Gesammelt werden laut Milinovic «demografische, wirtschaftliche und soziale Daten sowie Indikatoren für Migration». Die ersten Ergebnisse sollen 90 Tage nach Abschluss der Erhebung veröffentlicht werden.
«In Bosnien werden die Verwaltungsposten entsprechend der Stärke ihrer Volksgruppen aufgeteilt. Darum sind Volkszählungen ganz wichtig», sagt Norbert Mappes-Niedeck. Er ist Journalist und Balkankenner.
Ethnische Zugehörigkeit wird abgefragt
Bei der Volkszählung soll deshalb auch die ethnische Zugehörigkeit abgefragt werden. Die Angabe ist allerdings freiwillig. An den Rand gedrängt fühlen sich dabei Roma und Juden, denen einige öffentliche Posten vorenthalten bleiben. Wegen der politischen Differenzen war der Zensus, der eigentlich alle zehn Jahre ansteht, immer wieder verschoben worden.
Die Bevölkerungsstruktur hat sich durch den Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 deutlich verändert. In dem jahrelangen Konflikt wurden fast 100'000 Menschen getötet, mehr als zwei Millionen Einwohner flüchteten innerhalb Bosniens oder ausser Landes. Heute wird die ex-jugoslawische Republik mit einem Leopardenfell verglichen, weil ihre Bevölkerungsgruppen so zersprengt sind.
«Die bosnischen Muslime haben sich lange geziert vor dieser Volkszählung, vor allem aus Furcht davor, dass die Ergebnisse der ethnischen Säuberungen so festgeschrieben werden», sagt Mappes-Niedieck. Es gebe einige Orte, vor allem in Ostbosnien, die von der bosniakischen Bevölkerung heute nicht mehr bewohnt würden, zum Beispiel Srebrenica. «Die Leute tragen sich aber trotzdem so ein, als würden sie noch in diesen Orten leben.»
Demografische Strategien entwickeln
Dass es keine aktuellen Daten zur Bevölkerungsstruktur gibt, macht es den bosnischen Behörden schwer, Wirtschaftskonzepte sowie soziale und demografische Strategien zu entwickeln. So können das Pro-Kopf-Einkommen sowie die Kaufkraft und der Bildungsstand der Bevölkerung nicht hinreichend klar eingeschätzt werden.
Die bislang letzte Volkszählung in Bosnien im Jahr 1991 ergab eine Bevölkerung von 4,4 Millionen Menschen, davon 43,5 Prozent Muslime sprich Bosniaken, 31,2 Prozent Serben und 17,4 Prozent Kroaten. Mittlerweile wird von rund einer Million weniger Einwohnern ausgegangen. «Der Anteil der muslimischen Bosnier könnte stark gestiegen sein. Der der Serben könnte annähernd gleich geblieben sein, und der der Kroaten könnte eher abgenommen haben», vermutet Mappes-Niedieck.
Verschiebungen der ethnischen Gruppen könnten sehr grosse politische Konsequenzen haben. Einerseits wegen der Verwaltungsposten, die proportional auf die verschiedenen Volksgruppen aufgeteilt werden. «Andererseits wegen einer allfälligen serbischen Dominanz: Diese würde erneute serbische Forderungen nach der Abtrennung von Bosnien sehr stärken», sagt Bosnien-Kennerin Flottau. «Zündstoff wird es auf jeden Fall geben.»