Ibrahim ist ein grossgewachsener, junger Bosnier und Software-Ingenieur in Sarajevo. Er ist weniger bei den täglichen Strassenprotesten aktiv, sondern vielmehr an den Bürgerversammlungen, dem Plenum, wie man in Bosnien sagt.
Ibrahim spricht Deutsch, weil er bei Ausbruch des Bosnienkrieges 1991 mit seiner Familie nach Deutschland geflüchtet war. Er studierte Informatik und ist vor sieben Jahren wieder nach Sarajevo zurückgekehrt. An der Bürgerversammlung ist er zuständig für die Filmaufnahme des Plenums, die er dann in ganzer Länge ins Internet stellt.
Die Alltagsnot als Thema
Ein paar Hundert Bürgerinnen und Bürger versammeln sich an diesem Abend im Konzertsaal des Skenderija-Zentrums in Sarajevo. Die beiden Moderatoren stellen sich vor. Vorgeschlagen werden sie jeweils von der Arbeitsgruppe für die Organisation des Plenums.
Die Bürgerversammlung hat sich streng basisdemokratische Regeln gegeben. Alle dürfen ans Mikrofon, aber wer etwas sagen will, trägt sich in die Rednerliste ein. Die Redezeit ist auf zwei Minuten beschränkt.
Menschen jeden Alters und unterschiedlichster Herkunft berichten von ihrer Not im Alltag und bekommen zustimmenden Applaus. Sie stellen Forderungen und ihnen wird wieder applaudiert. Eine Juristengruppe des Plenums bündelt danach die gestellten Forderungen, setzt sie in juristisch korrekte Form, und bringt sie an der nächsten Bürgerversammlung zur Abstimmung. Die Forderungen richten sich an das Kantonsparlament, an die Ministerien, die Polizei und staatliche Institutionen.
Gefordert wurde unter anderem der Rücktritt der Kantonsregierung. Auf die grosszügigen Abgangsentschädigungen haben die Parlamentarier bereits verzichtet. In über zwanzig Städten funktionieren ähnliche Bürgerforen nach demselben basisdemokratischen Prinzip.
Gräben zwischen Volksgruppen
Viele in Bosnien wollen sich nicht mehr damit abfinden, dass die Politiker nur profitieren und den Staat in seiner Entwicklung blockieren, weil sie die Gräben zwischen den Volksgruppen immer wieder aufreissen. Die Politiker reagierten anfangs erschrocken auf die Vehemenz des Protestes, reden aber mittlerweile, als ob sie selber Demonstranten wären.
Beispielsweise Zlatko Lagumdzija, Chef der Sozialdemokratischen Partei und Bosniens Aussenminister. Jetzt sei die Zeit, dass die Politiker mehr auf die Leute hören sollten. Sozialdemokrat Lagumdzija ist seit zwanzig Jahren in der Politik, seine Partei hat die letzten Wahlen gewonnen. Die nächsten Wahlen sind Anfang Oktober. Ob die Bürgerversammlungen und die Demonstranten ihren Druck werden aufrechterhalten können, ist ungewiss. Aber immerhin, viele Tausend Bürgerinnen und Bürger Bosniens sind aufgestanden.