Bei zwei orchestrierten Anschlägen auf dem Brüsseler Flughafen und in der U-Bahn kamen am 22. März 32 unschuldige Menschen ums Leben. Der Terror hatte die «Hauptstadt Europas» erreicht. Einen Monat später ist die Medienkarawane weitergezogen, der Flughafen ist wieder geöffnet, die Metro fährt – mehr oder weniger – wieder planmässig.
Zurück bleibt eine Metropole, die aus dem Ausnahmezustand zurück in die Normalität finden will. Und das überraschend gut schafft, wie der belgische Schriftsteller Geert van Istendael schildert: «Ich glaube nicht, dass die Brüsseler noch sehr viel Angst haben». Waren die über eine Million Einwohner der Stadt unmittelbar nach den Anschlägen noch wie paralysiert, scheint inzwischen wieder so etwas wie Alltag eingekehrt zu sein.
Eine Metropole im Belagerungszustand
Anders sei die Stimmungslage allerdings bei den Touristen, etwa in Hotels und Restaurants: «Die Brüsseler in den Kneipen sind aber ganz ruhig und gefasst.» Doch die Nachwirkungen des Terrors sind unübersehbar: Das Militär zeigt Präsenz, bewacht neuralgische Punkte. «Die Stadt wirkt, als wäre sie besetzt», sagt van Istendael.
Erst heute teilte die zentrale Einrichtung zur Bewertung der Terrorbedrohung (Ocam) mit, sie habe Informationen, wonach der IS erneut Kämpfer nach Europa – und auch nach Belgien – geschickt habe. Es ist eine neue Erfahrung für die Hauptstädter: Der Ausnahmezustand auf den Strassen ist sichtbar; nach wie vor herrscht die zweithöchste Terrorwarnstufe. Ein weiterer Anschlag gilt demnach als «möglich und wahrscheinlich».
«Alles war stinknormal»
Van Istendael erlebte den Tag des Terrors hautnah. Am frühen Morgen vorher sass er selber in der Metro Richtung Hauptbahnhof, auf dem Weg zu einer Literaturveranstaltung in Antwerpen: «Wie immer mit der gleichen Linie. Alles war stinknormal. Eine Viertelstunde später kam die Explosion.» Wäre er nur kurze Zeit später zum Termin gefahren, würde van Istendael «nicht mehr existieren. Da kriegt man eine Gänsehaut im Nachhinein.»
Unter den Schauer mischt sich inzwischen auch Wut beim 69-Jährigen: «Es sind auch Gewissensbisse da. In ganz Brüssel hat man weggeschaut vor den Problemen, und jetzt haben wir ein viel grösseres. Es macht mich wütend, dass wir das alles nie sehen wollten.» Alle stünden sie in der Verantwortung, nicht nur die Politik, die ganze Stadt: «Es hat eine falsche Idee der Toleranz geherrscht.»
Die Suche nach Antworten
Statt die offensichtlichen Probleme zu thematisieren, hätten moderate Politiker einfach geschwiegen: «Und sie haben das Feld den Rechtsradikalen mit ihrem rassistischem Vokabular überlassen.» Van Istendael kennt das Problemquartier Molenbeek bestens: «Meine Frau ist dort aufgewachsen, meine Tochter und ihre Kinder leben dort. Und ich hatte noch nie Probleme, als ich sie besucht habe.»
Inzwischen hat Molenbeek zweifelhafte Berühmtheit als «Brutstätte des Terrorismus» erlangt. Doch die tiefschürfenden Probleme im Brüsseler Viertel blieben auch dem Poeten und Essayisten nicht verborgen.
In einem schmalen Streifen der ehemaligen flämischen Industriegemeinde erreiche die Arbeitslosigkeit inzwischen «griechische Verhältnisse»: «Es gibt Armut, die Menschen leben in schlechten Häusern. Das spürt man, wenn man sich dort aufhält.» Als Erklärung für den Terror will der Schriftsteller das freilich nicht gelten lassen.
Der belgische Anarchismus – anders interpretiert
Eine bislang kaum gehörte (Teil)-Erklärung, warum das radikale Gedankengut gerade in Brüssel auf so fruchtbaren Boden fällt, hat van Istendael jedoch: einen toxischen Cocktail von ur-belgischem Anarchismus und militanter Staatsfeindlichkeit: «Wir werden zwar immer weniger belgisch und immer mehr europäisch. Aber der Belgier ist ein bürgerlicher Anarchist: In den Strassen sieht man ganz normale Leute, aber in den Köpfen gibt es Trotz gegen alles, jede Form von Autorität und Behörden.»
Dieser typisch belgische Anarchismus habe sich auch in Brüssels Problemquartieren fortgepflanzt – und er habe sich mit Feindseligkeit und bitterem Ernst kombiniert: «Für die jungen Radikalisierten ist es kein Spiel mehr. Sie empfinden Belgien, die Behörden und Polizei als Fremdkörper. Es gibt junge Belgier marokkanischer Herkunft, die hier geboren und erzogen wurden, und sich noch immer nicht als Belgier betrachten.»