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Der neue Reichstag in Berlin von innen
Legende: Korrespondent aus der Kuppel: Der neue Reichstag in Berlin von innen. Keystone/Archiv

International Casper Selg: Mein Abschied von Berlin

Während 36 Jahren hat Casper Selg als Moderator und Leiter des Echo der Zeit, als stellvertretender Chefredaktor und als USA-Korrespondent für SRF gearbeitet. Nun geht er in Pension. Seine letzte Station war diejenige als Korrespondent in Deutschland. Hier schildert er einige seiner Eindrücke.

Von Emden an der Nordsee, bis Berchtesgaden in den Alpen, von Völklingen im Saarland bis nach Stralsund an der Ostsee: Ich habe ein unglaublich vielfältiges, kulturell enorm reiches Land erlebt und genossen.

Ich erlebte auch ein Land mit einer ausgesprochen interessanten politischen Kultur, angesichts seiner jüngeren Geschichte. Die Bundestagsdebatten sind in der Regel geprägt von grossem politischem Gehalt, Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein.

Die Schwierigkeiten mit der Führungsrolle

Casper Selg

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Casper Selg
Legende: casperselg.ch

Seit mehr als 35 Jahren ist Casper Selg Journalist. Er leitete das «Echo der Zeit» und war Radio-Korrespondent in den USA und nach 2010 in Berlin. Seit seiner Pensionierung im Sommer 2015 arbeitet er als freier Journalist und Ausbildner. Er ist Mitglied des Schweizer Presserates.

Norbert Lammert, der für die politische Kultur sozusagen verantwortliche Präsident des Deutschen Bundestages, versinnbildlicht dies. Er ist ein kultivierter, belesener Mann, ein Professor; der in jeder mehr und in jeder weniger historischen Stunde das wohlüberlegte, das richtige, aber nicht das bequeme Wort findet. Er weiss den Ernst der Politik mit souveräner Lockerheit zu verbinden.

Dies tut er in einer schwierigen Zeit. Dieses Land muss seine Rolle immer noch finden. Es muss seine Eigenschaft als mit Abstand stärkste Wirtschaftsnation des Kontinents mit dem Zwang zur Zurückhaltung in Übereinstimmung bringen. Ein Land, welches bis vor 70 Jahren den Kontinent mit Mord und Totschlag überzogen hat, kann nicht einfach Führungsmacht spielen. Auch wenn es faktisch durchaus Führungsarbeit leistet, leisten muss.

Nicht nur als grösster Beitragszahler innerhalb der EU leistet Deutschland Führungsarbeit, sondern etwa auch beim Thema Umwelt. Die Energiewende, welche Deutschland mit grossen Schwierigkeiten angeht, sie ist eine extrem schwierige Übung für die grosse Industrienation. Es bedeutet: weg von den Hauptenergien Kohle und Atom, ohne die eigene Industrie zu beschädigen. Deutschland ist da konzeptionell viel weiter als die anderen grossen europäischen Länder.

Angela Merkel
Legende: Angela Merkel, eine der Hauptprotagonistinnen der Berichterstattung aus Berlin. Keystone/Archiv

Eine extrem sachkundige Person

Sigmar Gabriel, der SPD-Chef und Energieminister, managt diese technisch, wirtschaftlich und politisch hochkomplexe Operation mit grosser Kraft, wie ich meine. Aber Gabriel ist ein von den Medien seit Jahren niedergeschriebener angeblicher Problemfall.

Im Unterschied zu Angela Merkel: Die Frau verkörpert zwar kein wirkliches politisches Programm, sie reagiert mehr als sie regiert. Aber das tut sie eindrücklich. Eine auf allen Gebieten extrem sachkundige, im ständigen Wirbel sehr ruhige Person mit einem unglaublichen Stehvermögen; eine, die bei aller Belastung kaum Fehler macht. Eine Physikerin, eine Rechnerin, deren Kalkulationen in der Regel aufgehen, jedenfalls in der Innenpolitik. Aussenpolitisch stösst sie an Grenzen. Dies könnte wiederum damit zu tun haben, dass Deutschland führen muss, aber eigentlich nicht soll.

Zu streng bei den «Hausaufgaben»

Deutschland führt, hat eine interessante politische Kultur. Es hat häufig hochstehende politische Debatten, aber auch das Gegenteil. Und auch Deutschland ist nicht gefeit gegen medial ausgelöste Aufregungswellen, gegen die darauf folgende politische Hysterie oder generell gegen politischen Unsinn aller Art.

Es gibt auch Fehleinschätzungen, etwa ein ziemlich schräges Selbstbild. Ein Beispiel liefert das Stichwort: «Hausaufgaben machen». Das ist die Forderung, mit der die deutsche Politik seit Jahren europäischen Partnerländern gegenüber auftritt: «Sparen». Die Idee ist, mit harten, politisch schwierigen Entscheidungen die Budgets und damit den Euro ins Lot zu bekommen. Das Motto der Deutschen: Wir können das, Ihr müsst das jetzt auch lernen. Das sagt hier jeder. Aber es stimmt nicht.

Zwei Hauptstädte und ein teurer Flughafen

Zwar hat Deutschland mit der Agenda 2010 genau dies einmal vorgemacht. Man hat Sozialleistungen massiv abgebaut, im Bestreben die Finanzlage langfristig zu stabilisieren. Gerhard Schröders SPD hat einen hohen politischen Preis dafür bezahlt, zahlt den heute noch. Aber harte, unpopuläre Entscheidungen zugunsten vernünftiger Finanzpolitik fallen der deutschen Politik noch immer genauso schwer wie allen anderen.

Man macht Wahlkampfversprechen, die nicht wirklich zu finanzieren sind, man hat immer noch zwei Hauptstädte und zahlt dafür Abermillionen, mit Rücksicht auf Bonn, man zahlt sechs, sieben oder vielleicht acht Milliarden für einen neuen Flughafen in Berlin, weil keiner eingriff, vor lauter Rücksichtnahmen. Die Liste ist lang und zeigt: Bei den berühmten Hausaufgaben ist auch in Deutschland noch viel «Luft nach oben», wie man hier sagt.

Aber wenn man sich, für eine Bilanz, die Geschichte des letzten Jahrhunderts vor Augen hält, dann muss man staunend anerkennen, was hier nach dem Krieg und nach der Wende erschaffen und geschafft worden ist. Die Deutschen mögen zwar nicht so viel sparen, wie sie selber meinen, aber ihre Politik ist besser als sie selber glauben.

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