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Ein mit einer UNHCR-Plane überdeckter Teil des Camps auf Chios.
Legende: Erst gestern wurden zwei Menschen bei Unruhen im Ausweichlager auf Chios verletzt. Keystone

International Chaos auf Chios hält an

Auf der griechischen Insel Chios kommt es in den völlig überfüllten Flüchtlingslagern immer wieder zu Ausschreitungen. Die rund 4200 Flüchtlinge sind frustriert. Die Bearbeitung der Asylanträge geht nur mühsam voran. Und der Winter beginnt. Ein Augenschein vor Ort.

SRF News: Wieso es auf der Insel Chios immer wieder zu Ausschreitungen?

Corinna Jessen

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Corinna Jessen bei TV-Schaltung nach Athen mit Mikrofon.

Corinna Jessen ist freie Journalistin in Athen, Korrespondentin für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen und Mitarbeiterin des ZDF. Sie ist in Athen geboren und aufgewachsen. Studiert hat sie in Deutschland.

Corinna Jessen: Das war tatsächlich schon das zweite Mal innert weniger Wochen, dass es in einem der Lager gebrannt hat. Es war ein Lager in der Nähe des Hafens der Insel – nicht das offizielle Registrierungscamp, das genauso überfüllt ist. Es handelt sich um ein wild entstandenes Ausweichlager, um das sich inzwischen auch Hilfsorganisationen und die Gemeinde von Chios kümmern. Aber dort gibt es nur Zelte, und bei Regen versinkt dieses Lager – wie zum Beispiel vorgestern – im Schlamm. Und nachts ist es in den Zelten bereits empfindlich kalt. Das sind die elenden Bedingungen, unter denen die Menschen dort seit Monaten leben.

Sie sitzen dort fest, und die Perspektivlosigkeit frustriert die Menschen natürlich. Vor allem die jungen Männer aus dem Maghreb flüchten in den Alkohol. Dazu kommen Streitigkeiten zwischen den Flüchtlingen. Es gibt Spannungen, die sich in Gewalt entladen – auch zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Denn diese haben verschiedene Aussichten auf die Anerkennung ihrer Asylanträge.

Unter diesen desolaten Umständen warten die Menschen auf ihren Asylentscheid. Das dauert unterschiedlich lange. Weshalb die verschiedenen Wartezeiten?

Seit Abschluss des EU-Türkei-Deals im März sind circa 16'000 Flüchtlinge auf die griechischen Inseln gekommen. So gut wie alle wollen einen Asylantrag stellen. Bis Oktober wurde gemäss der griechischen Asylbehörde gerade einmal 6000 Anträge aufgenommen. Und davon sind wiederum nur gerade 60 in erster Instanz bewilligt worden. Gegen diese vielen Ablehnungen legen so gut wie alle Einspruch ein, um einer Rückführung in die Türkei erst einmal zu entgehen. Das tun auch die, die sich im Gegensatz zu den Syrern keine Hoffnungen auf Asyl in er EU machen können. Das sind Afghanen, Pakistani und Nordafrikaner. Aber auch sie alle bleiben vorerst einmal auf der Insel und warten, bis sie an der Reihe sind. Das kann Monate dauern. Diese Gruppe weiss, dass sie kaum Chancen hat. Deshalb gibt es auch immer wieder Aggressionen gegenüber Syrern, die viel bessere Chancen haben.

Was sind die Gründe dafür, dass die Behandlung der Anträge so lange dauert?

Die griechische Bürokratie ist überfordert, sie arbeitet zu langsam. Griechenland ist von der EU auch alleingelassen worden. Die Hilfe ist nicht im versprochenen Ausmass gekommen. Eigentlich sollten ja Hunderte Asylexperten aus anderen europäischen Ländern zur Unterstützung entsandt werden. Doch nur wenige sind tatsächlich eingetroffen. Und seit Ausschreitungen gemeldet werden, melden sich noch weniger Willige. Das andere grosse Problem ist der Mangel an qualifizierten Dolmetschern, die differenzierte Einzelinterviews führen können.

Griechenland folgt dem internationalen Recht und prüft in jedem Einzelfall, ob zum Beispiel die Türkei für die bestimmte Person ein sicheres Drittland ist. Denn dahin sollten die abgelehnten Bewerber eigentlich zurückgeführt werden. Seit März waren das aber nur circa 600 Personen. Die Menschen sitzen also auf den Inseln fest. Sie wollen nicht zurück in die Türkei, aber auch nicht in Griechenland bleiben, sondern weiter nach Nordeuropa. Doch die Balkanroute bleibt zu. So versinken sie in Perspektivlosigkeit und Depression. Die Stimmung ist jetzt schon hochexplosiv.

Das Gespräch führte Hans Ineichen.

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