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Zahlreiche Flüchtlinge stehen hinter einer Kette mit einem Stopp-Schild daran. Vorne zwei Beamte.
Legende: An der mazedonisch-griechischen Grenze ist vorerst Schluss für Tausende Flüchtlinge. Keystone

International Chaos auf der Balkanroute: Tausende stranden in Griechenland

Seit Mazedonien die Grenzen für afghanische Flüchtlinge gesperrt hat, sind rund 6000 Menschen am Grenzübergang blockiert. Das Vorgehen des Nachbarlandes verärgert die Regierung in Athen, sagt Journalistin Corinna Jessen.

SRF News: Seit gestern ist die griechisch-mazedonische Grenze für Flüchtlinge geschlossen. Wie ist die Situation vor Ort?

Polizeiaktion an Grenze

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Griechische Polizisten haben am Morgen eine Eisenbahntrasse an der griechisch-mazedonischen Grenze geräumt. Dort hatten seit Montag Hunderte Migranten aus Afghanistan gegen die Grenzsperrung durch Mazedonien protestiert. Die FLüchtlinge werden mit Bussen in ein Camp in der Nähe von Thessaloniki gebracht. Lesen Sie hier mehr.

Corinna Jessen: Sehr chaotisch. Für die Flüchtlinge ist es eine einzige Strapaze. In dem Grenzlager selbst, direkt am Zaun, campieren notdürftig circa 2000 Menschen. Einige in Zelten, viele auf dem nackten Feldboden. Mindestens weitere 3000 bis 4000 sind gestern bei einer 20 Kilometer entfernten Tankstelle von Bussen abgeladen worden. Das ist der Platz, bis wohin die Busse fahren dürfen. Dort gibt es keinerlei Infrastruktur. Die Flüchtlinge werden von hier aus erst weitergelassen, wenn die Situation am Grenzzaun selbst es zulässt.

Aber gestern liessen sich die Menschen einfach nicht mehr aufhalten. Sie haben sich zu Fuss in Richtung Grenze in Bewegung gesetzt. Es ist ein riesiger Ansturm. Natürlich spricht sich herum, dass das Passieren der Grenze immer schwieriger wird und immer länger dauert. Jeder möchte es noch irgendwie schaffen, rüberzukommen. Und besonders verzweifelt sind die circa 600 bis 800 Afghanen, die nun gar nicht mehr durchgelassen werden. Gestern kam es zu Ausschreitungen, als einige versuchten, den Grenzzaun zu stürmen. 150 bis 200 von ihnen blockierten mit ihren Familien aus Protest die Schienen. Im vergangenen November hatte eine solche Blockade schon einmal zu wochenlangen Behinderungen des Eisenbahnverkehrs geführt.

Wie sieht es in Piräus, wo Flüchtlinge per Fähre von den Inseln ankommen, aus?

Auch dort ist die Lage nicht besser. Über 6000 Flüchtlinge wollen eigentlich nur noch schnell zur Grenze. Aber die Polizei liess viele der gecharterten Busse gar nicht erst losfahren und versuchte, die Menschen auf verschiedene Lager zu verteilen – meist jedoch erfolglos. Die Flüchtlinge wollen in kein griechisches Lager, sondern weiterreisen. So haben Tausende von ihnen gestern auf dem Hafengelände und in den Strassen von Piräus ihre Decken ausgebreitet. Und heute werden wieder Schiffe erwartet, die noch mehr Flüchtlinge von den ägäischen Inseln bringen.

Wie reagiert die griechische Regierung auf dieses verschärfte Grenzregime des Nachbarlandes Mazedonien?

Die Regierung ist sehr verärgert darüber, dass sie offiziell nicht einmal informiert worden ist, dass nun keine Afghanen durchgelassen werden. Athen fühlt sich verraten von einem Europa, in dem jeder nur noch gemäss seinen nationalen Interessen handelt. Dreieinhalb Stunden lang haben gestern die zuständigen Minister in einer Krisensitzung diplomatische Interventionen abgewogen. Ministerpräsident Alexis Tsipras hat sich zwar nicht geäussert. Aber er hat wohl versucht, über die niederländische EU-Präsidentschaft Einfluss auf die nördlichen Nachbarn zu nehmen. Migrationsminister Yannis Mouzalas fand sehr harte Worte: Er nannte die schrittweise Schliessung der Grenzen ein «Delirium der Panik und der Fremdenfeindlichkeit». Er liess sogar durchblicken, dass Griechenland sich einer künftigen Aufnahme Mazedoniens und Serbiens in die EU in den Weg stellen könnte.

Corinna Jessen

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Corinna Jessen bei TV-Schaltung nach Athen mit Mikrofon.

Corinna Jessen ist freie Journalistin in Athen, Korrespondentin für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen und Mitarbeiterin des ZDF. Sie ist in Athen geboren und aufgewachsen. Studiert hat sie in Deutschland.

Aber musste Griechenland nicht eben genau mit diesem Szenario rechnen, nachdem Österreich angekündigt hatte, nur noch 80 Flüchtlinge pro Tag aufzunehmen?

Das ist richtig, und in der vergangenen Wochen hat gerade Migrationsminister Mouzalas die Öffentlichkeit immer wieder darauf vorbereitet, dass die Grenzen wohl geschlossen werden könnten, Athen aber Massnahmen treffe, um vorübergehend mit bis zu 50'000 Flüchtlingen fertig zu werden. Aber nach dem Brüsseler Gipfel von vergangener Woche war man in Athen eigentlich davon ausgegangen, dass mit der Vertagung der Flüchtlingsfrage auf Anfang März die Beibehaltung des Status Quo zumindest bis dahin verlässlich sei und man noch eine kleine Verschnaufpause erhalten habe.

Dass eine mündliche Zusage der EU-Partner gleich am nächsten Tag nichts mehr Wert ist, hat hier doch einen ziemlichen Schock ausgelöst. Dazu kommt, dass der Flüchtlingsansturm auf die griechischen Inseln seit einigen Tagen wieder anschwillt. Dies zeigt, dass das schlechte Wetter im Januar für einen Rückgang sorgte, nicht etwa die von der EU so teuer erkauften türkischen Kontrollen.

Was kann Athen machen? Für Griechenland ist es ja nicht möglich, die Grenzen dicht zu machen, da die Flüchtlinge über das Wasser auf die Inseln gelangen.

Das ist so. Darum verbitten sich die Griechen die gebetsmühlenartig wiederholte Aufforderung der Nordeuropäer, Griechenland möge doch seine Aussengrenzen besser schützen. Natürlich wäre es für die griechische Marine ein Leichtes, vollbesetzte Schlauchboote mit Gewalt abzuhalten. Aber das will ja wohl niemand ernsthaft. Athen setzt seine Hoffnung jetzt auf den geplanten Nato-Einsatz, unter dessen Aufsicht Bootsflüchtlinge direkt in die Türkei zurückgeführt werden sollen.

Aber wie die griechische Tageszeitung «Ta Nea» gestern berichtete, scheint Ankara sich im Zusammenhang mit den seit Jahrzehnten strittigen Grenzfragen in der Ägäis nun doch nicht an die Vereinbarung halten zu wollen. Die letzte heimliche Hoffnung für Athen kann möglicherweise noch sein, dass weniger Flüchtlinge auf die Inseln kommen, wenn sich herumspricht, dass sie an der mazedonischen Grenze nicht mehr weiterkommen. Allerdings muss diese Rechnung nicht aufgehen. Viel wahrscheinlicher dürfte sein, dass Flüchtlinge und Schlepper einfach alternative Wege – zum Beispiel über Bulgarien, Albanien oder die Adria – suchen werden.

Das Gespräch führte Salvador Atasoy.

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze

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