Es ist März. Eine Verhaftungswelle rollt über China. Das Staatsfernsehen zeigt Polizisten, die Lagerhäuser inspizieren. Der Reporter zählt die Provinzen auf, in denen Verdächtige festgenommen wurden. Ein Impfskandal sorgt für Empörung in der chinesischen Bevölkerung.
Über Jahre haben chinesische Kinder Impfungen erhalten, die nicht wirken. Die Impfstoffe waren entweder abgelaufen oder unsachgemäss gelagert. Chinesische Eltern waren ausser sich und Peking kündigte an, man werde hart gegen die Verantwortlichen vorgehen. Die chinesischen Medien berichteten fleissig.
Skandale werden lange ignoriert
Weshalb schauen die Behörden bei solchen Skandalen über lange Zeit gar nicht hin? «Sie haben Angst. Wenn etwas passiert, versuchen sie sich zuerst selbst abzusichern. Das heisst, die Vorgänge werden solange es irgendwie geht unterdrückt», sagt Zhang Taofu von der Fudan-Universität in Shanghai.
Die Behörden haben Angst.
Professor Zhang erforscht Chinas Umgang mit Krisen. Das ging früher besser, als die staatlich kontrollierten Medien die einzigen Informationsquellen der Chinesen waren. Inzwischen gibt es auch in China soziale Medien. Die chinesischen Behörden sind dadurch unter Druck geraten. «Sie wissen inzwischen, dass sie Nachrichten nicht mehr komplett unterdrücken können. Sie müssen sich damit auseinandersetzen, ansonsten wird das Problem nicht gelöst», sagt Zhang.
Heute werden schnelle Antworten erwartet
In den sozialen Medien wie Weibo (Chinas Version von Twitter) oder die Wechat-Gruppen (eine Mischung aus Facebook und Whatsapp) brodelt die Gerüchteküche. Die Bevölkerung erwartet eine Antwort der Behörden und einen Verantwortlichen, «und zwar am besten sofort. Wenn nicht sofort, dann in einer halben Stunde oder am besten noch heute», so Zhang. Die Chinesen hätten nicht die Geduld, einen Monat auf die Aufklärung zu warten.
Entsprechend hart fällt dann auch die Reaktion der Regierung aus und auch die staatlichen Medien berichten sehr schnell über Verhaftungen, führen Schuldige vor und zeigen, dass der Staat etwas unternimmt.
Regierung hat sich angepasst
China sei noch immer in einer Phase der Entwicklung, sagt Professorin Liu Xia von der Shanghaier Jiaotong-Universität. Sie ist ebenfalls auf Krisenmanagement spezialisiert und führt in Shanghai ein Versuchsprojekt zur besseren Lebensmittel- und Medikamentensicherheit durch. Die Behörden hätten sich im Vergleich zu früher massiv verbessert, sagt Liu Xia.
Viele Chinesen denken vor allem an sich selbst und ihre Familien.
Neben der Regierungspolitik spielten beim Umgang mit Skandalen aber auch kulturelle Faktoren eine grosse Rolle. Viele Chinesen dächten vor allem an sich selbst und ihre Familien. «Vor der Tür kann ein Schneesturm toben, wenn im Haus drinnen alles in Ordnung ist, machen sie sich keine grossen Sorgen. Das ist tief in unserer Kultur verwurzelt», sagt Liu Xia. Bis ihnen selbst etwas passiere. Dann erwarteten die Menschen, dass die Regierung handle. Die Bevölkerung will sehen, wie die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, auch wenn damit ähnliche Vorfälle in Zukunft nicht verhindert werden, wie Liu Xia erklärt. «Die Opfer erwarten, dass die Täter ebenso leiden wie sie.»
Harte Strafen nützen nur kurzfristig
Der Impfskandal im März weckte auch Erinnerungen an den Milchpulverskandal vor acht Jahren. Sechs Kleinkinder kamen ums Leben und tausende erkrankten, weil ein chinesischer Nahrungsmittelkonzern vergiftetes Babymilchpulver verkauft hatte. Zwei Verantwortliche wurden schliesslich zum Tode verurteilt und die Chefin des Konzerns musste lebenslänglich hinter Gitter.
Der Fall steht exemplarisch dafür, dass kurzfristige Aktionen und drakonische Strafen höchstens kurzfristig die Gemüter besänftigen, langfristig aber nicht weiterhelfen. Auch heute, acht Jahre nach dem Skandal, misstrauen die chinesischen Eltern den chinesischen Milchpulverproduzenten und kaufen das Pulver wenn immer möglich im Ausland.