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Eine Frau (verschwommen) geht an einem Schaukasten mit aufgehängten Zeitungsseiten vorbei.
Legende: Die Benutzung der Website ist gratis; dekoder.org finanziert sich mit Spenden. Reuters

International Dekoder.org will Russland «dekodieren»

Seit einigen Tagen ist die Seite dekoder.org im Netz. Eine Seite, die russische Artikel übersetzt und so deutschsprachigen Lesern näher bringt. Die Redaktion füllt damit eine Lücke: Sie macht Berichte über das Geschehen in Russland zugänglich, die sonst nur Menschen verstehen, die Russisch können.

SRF News: Was hat Sie angetrieben, decoder.org ins Leben zu rufen?

Martin Krohs

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Der Gründer und Geschäftsführer der Website dekoder.org arbeitet mit Wissenschaftlern und Journalisten zusammen, übersetzt Artikel staatsferner russischer Medien und kommentiert mit seinem Team die politische Lage. Der Deutsche hat selbst zehn Jahre in Russland gelebt.

Martin Krohs: Unsere Wahrnehmung ist es, dass das Russland-Bild hier sehr grob gezeichnet ist – in Deutschland und in Europa allgemein. Ich nehme an, dass dieses Bild in der Schweiz ähnlich ist. Es fehlen die Zwischentöne und die Feinheiten. Einen Teil davon möchten wir gerne herüberbringen.

Wollen Sie auch bewusst einen Kontrapunkt zur staatlichen Propaganda setzen?

Das ist eine Frage, die sich aufdrängt, insbsondere angesichts der Initiativen, die momentan von staatlicher Seite in Europa unternommen werden. All das ist schwieriger, als es aussieht. Natürlich gibt es diese Propaganda. Es ist aber auch nicht alles, was von den grossen Agenturen kommt, tatsächlich Propaganda. Es ist ein Mix. Wir haben Informationen, so wie wir sie verstehen, und wir haben klar gesteuerte Messages. Es macht keinen Sinn, eine Gegenpropaganda aufbauen zu wollen. Wir finden es viel wichtiger, dass man das Spektrum der verschiedenen Stimmen, die im Land sind, möglichst vollständig herüberbringt. Das ist unser Anliegen. In erster Linie geht es uns nicht um die Gegenöffentlichkeit, sondern um möglichst viel Öffentlichkeit. Also darum, ein möglichst feines, buntes Bild zu zeichnen, um über die Frage der Propaganda und der Polemik hinwegzukommen.

Dieses Bild steht aber schon in Opposition zur offiziellen russischen Politik?

Wir übersetzen Artikel von unabhängigen Medien, die von der Wertestruktur her liberal und demokratisch sind. Sie sollen nicht ausgrenzend und diskriminierend sein und auch keine nationalistischen Tendenzen vertreten. Das ist unser Kriterium. Damit ergibt es sich von selbst, dass sehr viel Oppositionelles darunter ist. Aber auch hier geht es um die Mischung. Wir wollen ein Russland darstellen, bei dem klar wird, dass es eine herrschende Meinung gibt. Die Gegenmeinungen sind tatsächlich eher in den Randsektoren zu finden. Aber man muss auch diese wahrnehmen.

Wir wollen ein Russland darstellen, bei dem klar wird, dass es eine herrschende Meinung gibt.

Ihre Redaktion sitzt in Hamburg. Wie halten Sie sich auf dem Laufenden?

Wir sind überall verteilt. Die Redaktion ist in Hamburg, aber wir Redaktionsmitglieder sind viel unterwegs. Unser Inhouse-Experte beispielsweise arbeitet von verschiedenen Orten aus. Er schreibt an einer Doktorarbeit und ist als Forscher in einem Institut aktiv. Wir sind nicht eine klassische Redaktion und halten uns in erster Linie über das Internet auf dem Laufenden. Zudem sind wir alle Pendler zwischen Russland und Deutschland und dem Rest Europas. Wir leben hier in gemischten Gemeinschaften. Das heisst, der Informationsfluss ist die ganze Zeit vorhanden.

Dekoder.org beschäftigt also auch Wissenschaftler?

Wir machen zwar eine Presseabbildung, aber das Portal besteht aus zwei Teilen. Der eine ist der Medienteil, der andere ein Kompetenzteil. Die Artikel dafür werden von Forschern geschrieben, die an europäischen Universitäten selbst zum Thema Russland forschen. Von daher haben wir einen doppelten Informationsfluss, der zuerst in die universitären Institute und von da aus wieder auf unser Portal geht.

Russland bleibt immer ein Land, das einen in seiner Widersprüchlichkeit ergreift.

Zu Ihren Zielen gehört, dass sich Ihre Seite langsam zu einem dynamischen Buch über Russland entwickelt, in dem Sie das Land quasi «dekodieren». Braucht das nicht einen langen Atem?

Das Dekodieren wird nie vollständig gelingen. Man hat gewisse Klischees zu Russland, zum Beispiel dass es so rätselhaft sei. Dieses Rätsel lässt sich auch dann nicht auflösen, wenn man selbst in Russland lebt. Man kann ihm näher kommen. Man kann mit den einzelnen Bestandteilen dieses Rätsels vertraut werden. Aber es bleibt immer ein Land, das einen in seiner Widersprüchlichkeit ergreift. Wenn wir es schaffen, diese wenigstens zum Teil zu dekodieren, so dass die einzelnen Teile für den Leser sichtbar werden, ist das schon ein grosser Erfolg.

Das Gespräch führte Barbara Büttner.

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