Als Frank-Jürgen Weise vor knapp einem Jahr seine Stelle als Supermanager in Flüchtlingsfragen antrat, fand er im Keller einer Aussenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge körbeweise Pässe von Flüchtlingen. Aber niemand wusste, wo die Menschen waren, denen die Pässe gehörten. Die Flüchtenden waren notfallmässig auf die Kommunen verteilt worden.
Rund 400'000 Menschen seien ins Land gekommen, blickt Weise zurück. Man habe keine Übernachtungskapazitäten gehabt, und sie, «um den Menschen gerecht zu werden», in eine Kommune geschickt: «Dort waren sie bei der Ausländerbehörde bekannt. Aber bis Februar dieses Jahres hatten wir auf Bundesebene keine Möglichkeit des Datenaustausches mit den Kommunen.»
Das heisst: 400'000 Menschen waren nur lokal, aber nicht zentral erfasst. Es gab keinen Überblick. Genau das hat die Bevölkerung in Deutschland wahrscheinlich mehr beunruhigt, als die Tatsache, dass so viele Flüchtende gekommen waren. Weise teilt diesen Eindruck: «Dass wir die Menschen auf Bundesebene nicht kannten, hat zur Sorge in der Bevölkerung beigetragen – wie viele sind im Land, und wo sind sie, fragten sie sich.»
Schliesslich könnten die Kommunen auch keine Sicherheitsüberprüfung im europäischen Rahmen machen, wie dies dem Bund möglich sei, führt Weise weiter aus: «Dieser Zustand ist aber nun beendet.»
Es hat ein Jahr gedauert, bis die deutsche Verwaltung die Lage in den Griff bekommen hat. Ende dieses Monats soll die genaue Zahl der Flüchtenden bekannt sein. Es wird weniger als eine Million sein, denn ein Teil reiste weiter nach Skandinavien, ein Teil wurde mehrfach registriert, bis zu viermal sogar, sagt Weise: «Es hat ein knappes Jahr gedauert. Aber jetzt sind wir mit unseren Standards dort angelangt, wo man es von Deutschland erwarten kann.»
Man kann sich fragen was so ein Kerl im öffentlichen Dienst macht.
Frank-Jürgen Weise war früher Fallschirmjäger und Oberst bei der Bundeswehr. Bevor er 2004 an die Spitze der Bundesagentur für Arbeit wechselte war er erfolgreich in der Privatwirtschaft tätig, unter anderem gründete er eine gut gedeihende Logistikfirma. Dass er nun zwei riesige Behörden leitet, ist einer Ausnahmesituation geschuldet, wie es sie nie mehr seit der Wiedervereinigung gab.
Die-Sechs-bis-Sieben-Tage-Woche scheint der 65-Jährige äusserlich mühelos zu schultern: «Ich komme aus der Industrie und war immer Automobilzulieferer. Ich habe gelernt, rechtzeitig abzuliefern.» Man könne sich fragen, so Weise, was ein Kerl wie er im öffentlichen Dienst zu suchen habe. Die Antwort liefert er gleich selbst: «Logistik.»
Die Asylgesuche stapeln sich
Und wie ist Weises Bilanz? 400'000 Asylanträge wurden abgearbeitet, zwei von drei Flüchtenden dürfen bleiben. Die Anträge der Flüchtlinge vom vergangenen Jahr sind erledigt. Aber noch gibt es einen riesigen Stau aus den Jahren zuvor: «Der Rückstand wird nur langsam abgebaut. Es ist tragisch, dass es die Menschen betrifft, die ohnehin seit langem warten.» Weise beziffert den Rückstand auf 550'000 Fälle – abgearbeitet sollen sie im Frühjahr 2017 sein.
Welchen Flüchtlingsstrom könnte Deutschland heute bewältigen? «Mit den modernen Verfahren, die mir jetzt zur Verfügung stehen, wären 700'000 bis 800'000 in einem Jahr möglich. Aber das ist nicht gewünscht und auch nicht zu erwarten.» Erwartet werden für dieses Jahr etwa 300'000. Und die CSU fordert gerade in diesen Tagen nachdrücklich erneut eine Obergrenze.
Denn die grosse Frage ist: Wie werden die Flüchtenden integriert? Weises vorläufige Bilanz: «10 bis 15 Prozent können relativ schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden, wenn sie Dokumente mitbringen, die etwa einen Bachelor-Abschluss belegen.» Weitere 30-50 Prozent hätten «gute Berufserfahrung», etwa in Syrien Häuser gebaut oder unter schwierigen Umständen Autos repariert. Was bleibe, sei die Differenz dieser Berufserfahrung zu den extrem hohen Standards in Deutschland.
Keine Illusionen bei der Integration in den Arbeitsmarkt
130'000 Menschen aus den acht häufigsten Asylländern haben einen sozialversicherungspflichtigen Job. 30'000 haben ihn in den letzten 12 Monaten erhalten. Es gibt zwar eine Million offener Stellen in Deutschland, aber die Flüchtenden passen nicht exakt auf die Jobs. Weise führt aus: «Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass eine Ausbildung fünf Jahre in Anspruch nimmt. Bis die alle erwerbsfähig sind und wirklich arbeiten, dauert es vielleicht zehn Jahre.»
Daimler-Chef Dieter Zschetzsche hatte vor einem Jahr von einem neuen Wirtschaftswunder für Deutschland prophezeit. Das war übertrieben. Sein Konzern hat nur gerade neun Flüchtlinge angestellt. «Es ist sehr schwer, Flüchtlinge in einem so hochanspruchsvollen Feld wie der Automobilindustrie zu integrieren», begründet Weise die dürftigen Zahlen.
Weise kontert die AfD
Deutlich mehr Flüchtende finden Arbeit in sogenannten Minijobs oder Praktika. Wer eine gute ‹Bleibeperspektive› hat, kann schon nach drei Monaten einen Job erhalten, sogar bevor das Asylverfahren abgeschlossen ist. Die Arbeitgeber müssen nicht Deutsche bevorzugen. Sie nehmen den besseren Bewerber. Ausnahmen gibt es in wenigen Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Ein heikler Punkt, denn gerade die rechte AfD argumentiert mit grossem Erfolg, dass die Deutschen gegenüber Flüchtlingen benachteiligt würden.
Weise interveniert: «Egal ob Deutscher oder Flüchtling: Wer heute arbeitslos ist und Bedarf an Weiterbildung hat, bekommt diese auf jeden Fall. Hier gibt es keine Konkurrenzsituation». Würde man die knapp fünf Milliarden Euro für Flüchtlinge, die zuletzt geschätzt worden seien, auf andere Etats verteilen, sei jedoch klar: «Das Geld würde für Verkehr, Mobilität und andere Dinge zur Verfügung stehen.»
Flüchtlinge können nicht die Antwort auf den Fachkräftemangel sein. Asyl ist ein humanitäres Recht.
Kurzfristig werden die Flüchtenden kosten. Erst langfristig werden sie Deutschlands Wirtschaft voranbringen. Dennoch sind die Auswirkungen auf die Arbeitslosenstatistik vorläufig gering, sagt Weise: «Die Arbeitslosigkeit wird 2016 gegenüber dem Vorjahr – trotz der Flüchtlinge – noch einmal sinken. Für 2017 könnte sie sich im Schnitt ganz leicht erhöhen, im Bereich von 100'000 bis 150'000.»
Das ist der sehr guten Wirtschaftslage zu verdanken. Weise sagt offen: Flüchtende seien nicht die Antwort auf den Fachkräftemangel in Deutschland. «Sie können nicht auf die Antwort für den deutschen Arbeitsmarkt sein. Asyl ist ein humanitäres Recht. Die Menschen sind da, und das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen.»
Frank-Jürgen Weise steht hinter Merkels ‹Wir schaffen das›: «Ich kann doch nicht sagen, dass wir das jetzt mal probieren und schauen, was raukommt. Merkels ‹Yes we can› fand ich das Richtige.»