Im Süden Afghanistans sind die Taliban auf dem Vormarsch. Die Provinz Helmand steht offenbar kurz vor dem Fall an die islamistische Miliz.
Das gibt auch in Grossbritannien zu reden. Denn in Helmand kämpften die britischen Truppen jahrelang erfolglos gegen die Taliban. Dieser Misserfolg der Briten damals und der aktuelle Vormarsch der Taliban führen in Grossbritannien zu heftigen Debatten.
SRF News: Worum geht es in der aktuellen Debatte genau?
Martin Alioth: Die Nachrichten aus Afghanistan berühren einen sehr wunden Punkt in der britischen Erinnerung – namentlich denjenigen, dass Sangin, die Bezirkshauptstadt der Provinz Helmand, entweder schon an die Taliban gefallen ist oder unmittelbar davor steht, es zu tun. Das erinnert die Briten daran, dass über 100 ihrer Soldaten im Kampf um Sangin gefallen sind. Das ist mehr als ein Viertel aller britischen Todesfälle im Afghanistan-Konflikt. Deshalb stellt sich jetzt die Frage, ob dieser Einsatz wirklich all das Blut wert war.
Wie sah das militärische Engagement der Briten überhaupt aus?
Die Briten waren nach 9/11 an der ursprünglichen Afghanistanoperation beteiligt. Sie folgten dem amerikanischen Wunsch nach einer Aufstockung ihres Engagements, weil die amerikanischen Kräfte zunehmend im Irak gebunden waren. Sie erhöhten 2006 ihre Präsenz auf 10‘000 Mann und übernahmen die «Kontrolle» über die Provinz Helmand.
Der britische Verteidigungsminister sagte, es werde vermutlich kein einziger Schuss abgefeuert.
Wie wir heute wissen, waren die britischen Pläne ursprünglich gar nicht kämpferischer Natur. Der damalige britische Verteidigungsminister John Reid sagte, es werde in diesem auf drei Jahre angesetzten Einsatz vermutlich kein einziger Schuss abgefeuert werden. Es ginge darum, die Helmand-Provinz in ein kleines Belgien zu verwandeln. Diese Vorstellung hat sich natürlich zerschlagen. Die Briten wurden von Anfang an in einen Stellungskampf an Aussenposten verwickelt, wo sie gar nicht hinwollten und wofür sie auch nicht ausgerüstet waren.
Die Briten haben, um ihren amerikanischen Verbündeten zu gefallen, zu viel Verantwortung übernommen, ohne über die militärischen Ressourcen zu verfügen.
Es gibt auch Kritik am damaligen Einsatz der Briten. Ist die Ihrer Meinung nach berechtigt?
Ja. Die Briten haben sowohl im Irak, als sie die Südprovinz um Basra übernahmen, als auch in Afghanistan mit Helmand dieselben Fehler gemacht: Sie haben, um ihren amerikanischen Verbündeten zu gefallen, viel zu viel Verantwortung übernommen, ohne selber über die militärischen Ressourcen zu verfügen.
In dieser Notlage haben sie sich auf ihre kolonialen Erinnerungen zurückbesonnen, Verhandlungen mit verfeindeten einheimischen Gruppen geführt und sie gegeneinander ausgespielt. Das ist an beiden Orten gründlich schief gelaufen, auch weil sich die Einheimischen nicht an ihr Wort hielten. So mussten an beiden Orten letztlich amerikanische Kampftruppen eingreifen und den Briten die Kontrolle abnehmen.
Wird diese Debatte um den Einsatz in Afghanistan in Grossbritannien politische Folgen haben, etwa bei künftigen Auslandeinsätzen?
Die britische Bevölkerung stellt ihrer Regierung nicht mehr leichtfertig einen Persilschein für militärische Auslandeinsätze aus.
Ich denke, dass es den bestehenden Trend, eine wachsende Skepsis gegenüber Auslandeinsätzen zu haben, im britischen Publikum und damit auch in der britischen Politik weiter verschärft.
Der Syrien-Einsatz der britischen Luftwaffe vor einigen Wochen wurde nur mit Ach und Krach gebilligt. Diese Hürde wird aber immer höher. Die Briten stellen ihrer Regierung nicht mehr leichtfertig einen Persilschein für militärische Einsätze im fernen Ausland aus. Die jetzigen Erfahrungen in Afghanistan werden diese Skepsis wohl noch verstärken.
Das Gespräch führte Claudia Weber.