SRF: Als früherer bayerischer Ministerpräsident waren Sie – und ich vermute, Sie sind es noch immer – ein überzeugter Föderalist. Muss die EU föderaler werden?
Es muss nicht alles so zentral in Brüssel gelöst werden, wie das in den letzten Jahrzehnten insgesamt passiert ist. Denn so entstehen Regelungen, die in Deutschland, in Frankreich und Dänemark aus nationaler Sicht als überzogen betrachtet werden, weil die Mitgliedstaaten an diesen Detailausformulierungen nicht richtig beteiligt sind – und die Bürger sowieso nicht. So entstehen die Friktionen. Die einzelnen Mitgliedstaaten und die einzelnen Regionen in den Mitgliedstaaten müssen viele kleine und mittlere Dinge selber lösen.
Es kann nicht sein, dass die EU vorschreibt, welchen Lärm die WC-Spülung machen darf.
Und die EU-Kommission muss die grossen Dinge angehen. Es kann nicht sein, dass man vorschreibt, wie gross die Wasseröffnungen der Duschköpfen sein müssen, welchen Lärm die WC-Spülung machen darf oder ob Coiffeusen hohe oder flache Schuhe tragen müssen. Das hat Europa zu recht erhebliche Kritik eingefahren, denn darum muss sich EU nicht kümmern.
Sie waren in den letzten Jahren ehrenamtlich für den Abbau der Bürokratie zuständig. Was war Ihr grösster Erfolg?
Wir haben 300 Vorschläge eingebracht. Vom Volumen her war der grösste Erfolg sicherlich, dass es uns gelungen ist, die EU-Kommission, das Parlament und den Rat davon zu überzeugen, dass für die Berechnung der Umsatzsteuer dem Finanzamt nicht unbedingt eine Rechnung in Form von Papier vorgelegt werden muss, sondern dass auch elektronische Rechnungen genügen. Alleine diese Massnahme bringt für die 23 Millionen Unternehmen in der EU eine Entlastung in der Grössenordnung von 18,4 Milliarden Euro. Diese 300 kleinen Fälle, die wir gelöst haben, bringen Einsparungen von über 33 Milliarden Euro.
Noch wichtiger ist aber, dass es in Brüssel ein neues Denken gibt. Die Kommission hat damit begonnen, den gesamten Rechtsbestand der europäischen Ebene zu untersuchen und zu hinterfragen, ob es nicht auch unbürokratischer gehen würde. Das ist mein grösster Erfolg.
Wenn man Ihnen zuhört, dann kriegt man den Eindruck, dass Sie auch Verständnis für die Briten haben.
Ich habe immer Verständnis, wenn dem Subsidiaritätsprinzip das Wort geredet wird. Grossbritannien ist ein Sonderfall: Das Land ist unwillig in die Europäische Gemeinschaft eingetreten. Kaum waren die Briten drin, haben sie sich immer wieder darüber beklagt – Stichwort Maggie Thatcher. Und David Cameron verlangt nun Vertragsänderungen substanzieller Art. Ich wünsche mir, dass die Briten in der EU bleiben und die Anträge, die sie stellen, fair behandelt werden. Aber ich wünsche mir auch, dass die Briten Mass halten.
Vor zehn Jahren vertrat ich die Meinung, dass die Schweiz eigentlich gut aufgehoben wäre in der EU.
Als ehemaliger bayerischer Ministerpräsident, als Nachbar der Schweiz, haben Sie sicherlich Verständnis für die Position und die Schwierigkeiten der Schweiz. Stichworte Zuwanderungs-Initiative oder Richter beim Europäischen Gerichtshof: Was würden Sie uns raten?
Vor zehn Jahren vertrat ich die Meinung, dass die Schweiz eigentlich gut aufgehoben wäre in der EU. Als starkes und mustergültig demokratisches Land wäre sie sicher einen Gewinn für die EU. In der Zwischenzeit kenne ich aber auch die ausgeprägten Empfindungen der Schweizer, so weit wie möglich ihre Eigenheiten zu bewahren. Dennoch müssen sie sehen, dass die Schweiz ein Teil Europas sind. Das Land liegt in der Mitte des Binnenmarktes und dessen Bewohner leben auch davon.