Zum Inhalt springen

International «Die Kurden sind sehr wütend»

Vordergründig geht die Türkei seit drei Tagen gegen den IS in Nordsyrien vor. Doch offenbar geht es Präsident Erdogan bei seinem militärischen Eingreifen in den Syrien-Konflikt vor allem darum, die aufstrebenden Kurden-Gruppen zurückzubinden. Der Türkei droht ein Aufbrechen des Kurden-Konflikts.

SRF News: Wie ist die Stimmung in der türkischen Bevölkerung angesichts der Eskalation der letzten Tage?

Luise Sammann

Box aufklappen Box zuklappen

Die Journalistin Luise Sammann lebt und arbeitet seit 2009 in der Türkei und berichtet von dort für deutsche Medien über das Land sowie den Nahen Osten. Auch bei Radio SRF ist sie immer wieder zu hören.

Louise Sammann: Am Wochenende hat es in Ankara und anderen türkischen Städten Demonstrationen gegeben. Das zeigt, dass es in der Türkei viele Menschen gibt, die nicht zufrieden sind mit dem, was passiert. Allen voran die Kurden sind sehr wütend. Viele von ihnen sehen die Angriffe der Türkei gegen den IS als Vorwand oder sogar eine Art Ablenkungsmanöver der türkischen Regierung. Eigentlich gehe es dieser aber um Angriffe auf die Kurden der PKK.

Der Friedensprozess mit den Kurden ist ja unter der jetzigen AKP-Regierung in Gang gekommen. Wieso gibt es jetzt diesen Strategiewechsel?

Der Fairness halber muss man sagen: Es gibt einen Strategiewechsel bei der türkischen Regierung, aber auch auf der kurdischen Seite. Auch die PKK hat ja den Waffenstillstand aufgekündigt. Trotzdem ist die Frage berechtigt, welche Gründe die türkische Regierung für ihren plötzlichen Strategiewechsel hat. Einer ist: Die Kurden sind in den letzten Monaten in Nordsyrien und Nordirak sehr stark geworden. Sie wurden international als Partner im Kampf gegen den IS akzeptiert. Das hat sie aufgewertet. Ankara hat sich von Anfang daran gestört, und jetzt will man sich dies offenbar nicht mehr länger mit ansehen. Denn die Angst, dass nach den irakischen und syrischen Kurden auch jene in der Türkei erstarken und eine Autonomie fordern könnten, ist sehr gross.

Mehr zum Thema

Ein anderer wichtiger Grund für den türkischen Strategiewechsel ist ein innenpolitischer: Die regierende AKP hat bei den Wahlen im Juni ihre Regierungsmehrheit verloren und bis heute keinen Regierungspartner gefunden. Nun gab es in den vergangenen Wochen immer wieder Gerüchte, insbesondere Präsident Erdogan wolle gar keinen Koalitionspartner für seine AKP. Er setze auf Neuwahlen. In diesem Fall wäre ein hartes Vorgehen gegen die Kurden der beste Weg für Erdogan, die Neuwahlen zu gewinnen. Denn damit erreicht man in der Türkei nationalistische Wählerstimmen, welche die AKP nun braucht. Es werde also bewusst ein Konflikt mit den Kurden herbeigeführt – so munkelt man – aus dem dann eine starke AKP-Regierung herauskommen soll.

In drei Tagen ist viel Vertrauen zerstört worden.

Heisst das, dass es nun zu einem neuen Konflikt mit den Kurden kommt oder gar zu einem Krieg?

Die wenigsten Menschen, mit denen ich gesprochen haben, glauben, dass es wirklich zu einem Krieg kommt. Das kann sich keiner richtig vorstellen. Doch es steht fest, dass in nur gerade drei Tagen sehr viel Vertrauen zerstört worden ist und dass die Türkei in alte Fahrwasser zurückkehrt, die man eigentlich überwunden geglaubt hatte. Nach dem Wahlerfolg der pro-kurdischen HDP im Juni hatte es vermehrt einen Dialog zwischen Kurden und Türken gegeben, den man sich jahrelang gar nicht hatte vorstellen können. Das war alles auf gutem Wege, und die Kurden sind ja jetzt erstmals seit Jahren in Ankara politisch vertreten. Aber mit diesem Dialog scheint es nun erst einmal vorbei zu sein. Das schockiert sehr viele Menschen hier – längst nicht nur Kurden.

Meistgelesene Artikel