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Blumen, die nach dem Attentat in Sousse niedergelegt wurden.
Legende: Nach dem Jahr des Terrors in Tunesien bleiben Fragen: vor allem diejenige, wohin das Land steuert. Keystone

International Die schrecklichen Kinder der Revolution

Tunesien ist die Geburtsstätte des Arabischen Frühlings. Und eines der grössten Rekrutierungsbecken des Terrorismus. Der revolutionäre Furor entfesselte die Hoffnungen einer ganzen Generation. Für manche zerschellten sie an der Realität.

Im Januar richtete sich die Terrormiliz IS mit einer Videobotschaft an die Weltöffentlichkeit: Das Urlaubsland Tunesien sollte zum Ziel von Anschlägen werden. Es war keine leere Drohung. Am 18. März richteten Terroristen im Nationalmuseum Bardo ein Blutbad an. 24 Menschen, 20 davon Touristen, starben. Am 26. Juni richtete ein Attentäter weitere 38 Touristen an einem Strandabschnitt im Ferienort Sousse.

Die Ermittlungen förderten erschreckende Parallelen zu Tage. Die Attentäter beider Anschläge wurden beim libyschen Ableger des «Islamischen Staats» ausgebildet. Unter dem Radar der tunesischen Behörden gelangten sie zurück in ihre Heimat.

Und: Die jungen Männer kamen aus Verhältnissen, die nicht als Brutstätte des Terrors taugen wollen. Der Attentäter von Sousse entstammte einer gutbürgerlichen Familie, studierte Luftfahrttechnik – und arbeitete zeitweilig als Animateur für Touristen. Gleiches galt für die jungen Männer, die ihren Terror in Tunis verbreiteten. Auch sie waren keine bildungsfernen, religiösen Fanatiker.

Terror aus der Mitte der Gesellschaft

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Was blieb, war eine bedrückende Einsicht: Im gleichen Land, in dem sich eine jugendliche Massenbewegung von den Fesseln der Diktatur befreite, verfielen junge Menschen in grosser Zahl der Verführung des Dschihad. Und das einzige Land, in dem der Arabische Frühling nicht jäh verwelkt ist, wurde zu einem der grössten Rekrutierungsbecken des internationalen Terrors. Gemäss dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte sollen allein in Syrien 4000 Tunesier kämpfen. Und sie strömen zurück in ihre Heimat.

Die tunesischen Behörden gehen aktuell von etwa 700 Dschihad-Rückkehrern aus, die sich im Land aufhalten. Kenner der Materie, so Beat Stauffer, Journalist und Maghreb-Experte, rechneten jedoch mit deutlich mehr. Dutzende von ihnen wurden mit drakonischen Gefängnisstrafen belegt. Rigoros gehen Sicherheitskräfte gegen Hassprediger vor, Dutzende verdächtige Moscheen wurden geschlossen. «Wir befinden uns im Krieg», so die Losung von Präsident Béji Caid Essebsi.

Das tunesische Paradox

Beat Stauffer

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Portrait von Beat Stauffer
Legende: Friedel Ammann

Beat Stauffer berichtet als freischaffender Journalist für verschiedene Medien aus Nordafrika. Er ist auch als Buchautor, Kursleiter und Referent tätig.

Stauffer versucht, das tunesische Paradox – liberal-demokratischer Freiheitsdrang und radikal-islamistischer Terror – aufzulösen. Die Ursprünge des prekären Miteinanders von gesellschaftlichem Aufbruch und grassierendem Terror sieht er im Unterdrückungsapparat des abgesetzten Regimes: Ben Ali sei gnadenlos mit Dschihadisten und ihren Sympathisanten umgegangen.

In den Gefängnissen hätten sie sich radikalisiert; mit dem Aufstieg der demokratisch gewählten, islamistischen Ennahda-Partei wurden sie nach der Revolution von 2011 von der Leine gelassen. Und sie nutzten ihre neuen Freiheiten: «Sie missionierten überall. In Moscheen, Jugendzentren, Schulen – überall betrieben sie ihre Propaganda.»

Enttäuschte Hoffnungen

Und sie fiel auf fruchtbaren Boden. Denn Tunesien, das inzwischen von Säkularen und Islamisten gemeinsam regiert wird, verfügt zwar über eine der liberalsten Verfassungen in der gesamten islamischen Welt. Wirtschaftlich liegt das Land aber, nach wie vor, darnieder. Die Hoffnungen einer ambitionierten, gut ausgebildeten Generation erfüllten sich nicht: «800‘000 Menschen sind arbeitslos, weit über eine Million junge Menschen haben nur schlecht bezahlte Jobs oder arbeiten nur Teilzeit», so Stauffer.

Die Sirenengesänge der Dschihadisten bieten vielen der Perspektivlosen etwas, das ihnen das fragile staatliche Gebilde Tunesiens (noch) nicht geben kann: einen Sinn. Die toxische Mischung aus Perspektivlosigkeit und sich bahnbrechender Propaganda führte dazu, so Stauffer, «dass viele junge Tunesier diesen Rattenfängern auf den Leim gingen.»

Was tun?

Zivilgesellschaftlich fänden hitzige Diskussionen statt, wie mit den Dschihad-Rückkehrern umzugehen sei. Allein, ein Rezept dagegen habe man nicht. «Das alles ist Neuland. Man hat schlichtweg Angst vor diesen Kämpfern, die Blut an den Händen haben. Angst, dass das fragile Land destabilisiert wird.» Zwar seien sich Experten einig, dass die jungen Menschen wieder in die Gesellschaft integriert werden müssten. Doch die Realität sei eine andere: Repression.

«Die islamistische Partei Ennahda plädiert dafür, mit den jüngeren Dschihadisten ‹freundlich› umzugehen.» Denn sie seien indoktriniert, und mit leeren Versprechungen verführt worden, so Stauffer. Die säkularen Kräfte hingegen wollten sie die volle Härte des Gesetzes spüren lassen. «Repression hat wieder Konjunktur», resümiert Stauffer: «Gerade weil Tunesien das einzige arabische Land ist, in dem die Revolution auf halbwegs gutem Weg ist.» So droht, als Ironie der Geschichte, die Revolution ihre verlorenen Kinder zu fressen.

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